DIE FLIEGE

Ich warte an der Wohnungstür bis Matthias’ Schritte im Treppenhaus verhallen. Wie gerne würde ich mit ihm am Rhein spazieren gehen, aber das ist leider nicht möglich. Aneta wird bald kommen und ich muss ihr zeigen, was alles von der Party noch sauber zu machen ist. Und in einer halben Stunde muss ich dann auch schon in die Klinik los. Ich habe Daniel versprochen, seinen Nachmittagsdienst zu übernehmen. Vielleicht bin ich tatsächlich zu gut als Vorgesetzte, wie Matthias meint. Aber es geht nicht nur ums Gutsein, es geht um mehr, um ein Klima des Vertrauens.
Für einen Augenblick könnte ich noch auf die Dachterrasse gehen. Wenn schon nicht mehr genügend Zeit für einen Spaziergang bleibt, dann wenigstens ein paar Minuten zum Durchatmen.
Der Plattenspieler, den Monika und Sabine gestern als Geschenk mitbrachten, ist wirklich ein schönes Stück. Matthias hat sich richtig darüber gefreut und ihn stolz hier auf den alten Nierentisch gestellt. Eigentlich wollte er Sabine nicht einladen. Sie sei ein abgeschlossenes Kapitel in seinem Leben, sagte er. Aber ich schlug ihm vor, ihr dennoch eine Einladung zu schicken. Auch ein abgeschlossenes Kapitel bleibt Teil des eigenen Lebens und ich möchte doch so viel wie möglich an seinem teilhaben. Bei der Begrüßung ist Sabine etwas steif gewesen. Sie hat auch anders ausgesehen als erwartet, irgendwie spröder, verglichen mit den Fotos, die mir Matthias nach langem hin und her von ihr einmal gezeigt hatte. Sie schien sich zu Beginn nicht so wohl zu fühlen, obwohl die alten Studienfreunde auch da gewesen sind, Harald, Klaus und Martina. Und dann ist sie plötzlich rausgegangen, während des Desserts, das Essen lobend, sie müsste nur kurz frische Luft schnappen. Vielleicht hat sie doch etwas vom Buffet nicht vertragen, denn sie ist ziemlich lange weg gewesen. Ob ich die Zutatenliste … ? Sie tauchte erst wieder auf, als diese dumme Diskussion über Gefühle losgegangen ist. Ich weiß gar nicht, wie es dazu kam. Auf einmal dozierte Leschinski darüber, dass es nur neuronale Aktivitäten gebe und Monika hielt dagegen, das muss sie als Psychologin ja irgendwie auch. Ich halte mich von solchen Diskussionen lieber fern. Außerdem gehören sie nicht auf eine Geburtstagsparty. Das sieht Matthias auch so. Es reicht, wenn er sich jeden Tag im Labor und in den Simulationen damit beschäftigen muss.
Warum er vorhin nur so lange am Fenster gestanden hat? Um zu sehen, ob es aufgehört hat zu regnen, hätte doch ein kurzer Blick nach draußen gereicht. Die Polizei stünde vor der Tür, hat er gesagt. Das ist in einer Stadt nicht ungewöhnlich. Die Polizei macht ihre Arbeit, nichts weiter. Jetzt ist nichts mehr davon zu sehen, auch Matthias nicht. Er muss schon über den Gartenfeldplatz gegangen sein, mit seinen langen, ausgreifenden Schritten, die ich so an ihm liebe.
Seine Bartstoppeln haben auf meiner Handfläche gekratzt, als ich ihn schließlich sanft vom Fenster weggedreht habe. Die Gardine fällt wie ein Schleier vor das Fenster zurück, meinen Kuss für ihn vor der Welt verbergend. Aus seinem Mund strömt warmer Atem. Die kleine Schorfstelle kitzelt an meinen Lippen. Ich hätte für immer so stehen bleiben können, in seiner Umarmung, seine Hand über meine Wange streichend und alle Pflichten vergessen.
Doch das darf ich nicht tun. Bevor ich auf die Terrase gehe muss ich noch mein ›Medikament‹ nehmen. Einmal hatte ich es versuchsweise abgesetzt und danach ging es mir richtig schlecht. Wenigstens muss ich nicht spritzen, das ist der Vorteil, wenn man bitterarm im Hochland aufgewachsen ist. Dort gibt es nichts anderes außer die Knospen des ›arbol del cielo‹. Wenn man Glück hat, schlagen sie an, wenn nicht, stirbt man innerhalb weniger Wochen. Ich hatte Glück.
Matthias glaubt, die Knospen seien ein besonders schrecklich schmeckender Tee, von dem mir meine Eltern regelmäßig ein Päckchen zuschicken. Ich lasse ihn in dem Glauben. Die rote Dose macht sich ja auch gut zwischen den Tee- und Kaffeebehältern. Schon beim Öffnen strömen die Knospen ihren herben Duft aus. Man legt sie unter die Zunge und wartet, bis der Speichel sie vollständig aufgelöst hat – so, als seien sie für uns Menschen gemacht. Zuerst wäscht der Speichel die Bitterstoffe aus. Diesen Moment muss man überwinden, dann wird es besser.
Ich stelle die Dose hinter die Tees zurück … der Zuckerstreuer daneben … was … was ist das für ein schwarzes Ding darin? Das ist doch eine Fliege. Wie ist die denn da rein gekommen? Vermutlich durch das Streurohr, einen anderen Weg gibt es nicht. Das untere Ende ist nicht mehr vollständig von Zucker bedeckt. Irgendwie hat sie es geschafft da durch zu krabbeln. Und jetzt weiß sie nicht mehr, wie sie herauskommt. Sie bewegt sich kaum. Einzelne Zuckerkristalle hängen an ihren behaarten Beinen. Wie es sich wohl anfühlt, bis zu den ersten Beinsegmenten in Zucker zu versinken? Süßer, scharfkantiger Sand. Jedenfalls muss sie aus dem Streuer raus, oben auf der Terrasse am besten. Und den restlichen Zucker leere ich anschließend besser aus. Wer weiß, was sie alles an ihrem Körper dranhängen hat.
Die Treppe zur Dachterrasse ist fast wie eine Himmelsleiter. Man könnte meinen, sie höre gar nicht auf, so schmal und steil wie sie ist. Aber nach der Kehre ist man dann doch schon so gut wie oben. Der Regen hat Pfützen auf dem Terrassenboden hinterlassen und auf der Bank, auf der ich so gerne sitze, stehen kleine Wasserlachen. Dann bleibe ich hier am Fenstersims, da ist der Regen nicht hingekommen.
Von der Terrasse aus hat man einen wunderschönen Blick über die Dächer der Stadt. Das ist fast so, als würde ich auf einem der Berge zu Hause im Hochland stehen. Wenn ich meiner Mutter nicht in den Maisfeldern oder zu Hause helfen musste, saß ich oft einen ganzen Nachmittag auf einem Felsvorsprung und schaute in das Tal, in dem unser Dorf lag, bis die Glocken der Kirche mich nach Hause riefen. Manchmal konnte man die Netze glitzern sehen, in denen wir die Knospen des ›arbol del cielo‹ zum Trocknen auslegten. Doch diese Zeit ist schon lange vorbei.
Die Fliege ist auf das Streurohr des Zuckerstreuers gekrabbelt. Warum fliegt sie eigentlich nicht? Selbst jetzt beim Aufschrauben des Deckels bleibt sie hocken und dreht sich lieber im Kreis mit. Komisches Ding. So – raus aus dem Glas und weg mit dir. Aber sie fliegt nicht weg. Schwerfällig bleibt sie weiter auf dem Streurohr hocken.
Die Sonne bricht durch die Wolken hindurch. Das Licht lässt den schwarzen Körper der Fliege matt glänzen und die Flügel durchsichtig wie Pergamentpapier werden. Man sieht die Äderung darin. Eine Windbrise hebt die Flügel an, jetzt fliegt sie endlich los, der Freiheit entgegen. Doch sie fliegt nicht richtig, sie sackt in ihrer Flugbahn nach unten und prallt gegen das kleine Fenster neben der Terrassentür. Von dort fällt sie auf die Fensterbank herunter, auf den Rücken, sie summt und dreht sich wild im Kreis. Deswegen – das ist nicht die Freiheit, das sind die letzten Sekunden vor dem Tod. Weiß die Fliege davon? Erlebt sie den Schmerz, die Angst, dass sie gleich ausgelöscht sein wird? Vermutlich auf ihre Weise. Sie ist keine Maschine. Ihr winziges Gehirn, dieser kleine Nervenknoten in ihrem Kopf kann vermutlich eine primitve Form der Aufmerksamkeitsfokussierung erzeugen. Vielleicht auch ihrem eigenen Tod gegenüber. Sie strampelt wild mit ihren behaarten Beinchen, die vor wenigen Augenblicken noch in nahrhaftem Zucker gesteckt haben. Ich betrachte die Agonie, die so anders ist als bei uns Menschen. Aber das scheint nur auf den ersten Blick so. Beide tanzen auf ihre Weise den wilden Tanz des Todes. Bis zum bitteren Ende. Jetzt. Sie hört auf sich wild im Kreis zu drehen, die Beinchen ziehen sich zusammen. Ein Tropfen weißer, zäher Flüssigkeit drückt sich aus dem After. Bei uns Menschen ist die Flüssigkeit schwarz, schwarz wie Kohle. Und wir erbrechen sie kurz bevor wir sterben. Bei Patienten mit einem Glioblastom ist es ein Zeichen für das finale Stadium – als wäre es der Vorbote für das Leben, das anschließend entweicht. Doch das ist nur ein Bild, es entweicht nichts, der Organismus bricht einfach zusammen. Auch darin sind sich Mensch und Fliege gleich, sie hören einfach auf zu leben. Was zurückbleibt ist tote, organische Materie. Und die führt man dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Ich schnippe die Fliege auf die Hand, trage sie zur Terrassenbrüstung und lasse sie zwischen die frisch gepflanzten Geranien in die Erde fallen. Unter mir auf dem Gartenfeldplatz spielen Kinder. Autofahrer fahren zur Boppstraße hoch. Sie verschwenden keine Gedanken an ihr Ende. Das so seltsam ist. Denn alles, was am Ende von uns bleibt, ist Kompost. Das ist alles, was bleibt: Kompost.