DER TOTE

Scheiß Erkältung! Meine ganzen freien Tage habe ich damit zugebracht, den verschleimten Kopf in Reiners Dampfbäder zu halten und mir Tabletten gegen die Kopf- und Gliederschmerzen einzuwerfen. Wegen diesem Mist habe ich das Fitnessstudio ausfallen lassen müssen. Und den Husten bin ich noch immer nicht los. Damit und einer leichten Tablettendröhnung habe ich mich jetzt hierherschleppen dürfen, Budenheimer Landstraße, scharfe Linkskurve durch den Gonsenheimer Wald, um einen Toten zu besichtigen, dem der Kopf zu Matsch gefahren wurde. Der Täter hat Fahrerflucht begangen, verdammter Abschaum. Das ganze bei Scheißregen natürlich.
Die Staatsanwaltschaft hat, wie immer, wenn es sich um einen Delikt mit Todesfolge handelt, den Ort großräumig abgesperrt. Die Kollegen von der Zugangskontrolle kennen mich, ich zeige ihnen trotzdem vorschriftsmäßig meine Dienstmarke, sie nicken mich durch. Einer schaut mir verstohlen hinterher – sie können es einfach nicht lassen.
Der Tote muss da vorne im Scheitelpunkt der Kurve liegen. Die Jungs von der Spurensicherung bilden kleine Trauben, eins mit ihren Analysegeräten. Dazwischen leuchtet ein neongrünes Regencape. Das ist Frank. Ich kann ihn bis heute nicht vom Vorteil dezentfarbener Funktionskleidung überzeugen. Der Regen rinnt an der Kapuzenvertiefung meiner Jacke zur Seite hin ab. Wenigstens bleibt so das Gesicht trocken. Frank klopft einem Spurensicherer auf die Schultern und kommt mir dann ein paar Schritte entgegen. Der Regen tropft an seiner Nase herunter. Die Vorderhaare kleben wie nasser Flachs an seiner Stirn. In der Hand hält er einen dampfenden Plastikbecher.
»Auch einen Kaffee, Manu?«
Kaffee? Er meint das Zeug, dass er in seiner Thermoskanne dabei hat? Heute sogar im extra Plastikbecher, wozu das denn? Aber Kaffee geht heute überhaupt nicht, selbst wenn es einer wäre.
»Nein, danke, wenn wäre mir eher nach Tee.«
»Den gibt es auch.«
»Du und Tee?«
»Nicht ich, die SpuSi. Die haben heute ihre neue Getränkemaschine mitgebracht. Gegen das Scheißwetter.«
»Und ihr Chef hat das genehmigt?«
»Sieht so aus, scheint auch nicht so teuer gewesen zu sein –Mahler hat das Teil angeblich zusamengebaut.«
Ich belle meine Hochachtung gegenüber Mahler, diesem eingebildeten Fettsack, mit einer Hustensalve heraus.
»Ich glaube, du wärst heute besser im Bett geblieben.«
»Nein, das geht schon. Frische Luft soll gut für das Immunsystem sein. Aber ein Tee wäre jetzt tatsächlich nicht schlecht. Was wissen wir denn bisher?«
Der Tote liegt da drüben im Straßengraben, von der Leichenplane zugedeckt. Frank zählt die Fakten und Vermutungen auf: Unfallhergang, Todeszeitpunkt, die Aussage des Autofahrers, der den Toten gefunden hat – Stunden nachdem der Unfall passiert ist. Das spricht wieder mal für sich: Dutzende Autos fahren daran vorbei, bis einer am Morgen, weil er aussteigen und pinkeln muss, die Leiche endlich bemerkt. Der SpuSikombi hat tatsächlich eine Zapfanlage für warme Getränke eingebaut. Frank lässt ein dampfendes Etwas heraus, das Zitronentee sein soll. Regen rinnt ihm vom Cape in die Kniekehlen. Ich frage ihn, ob er sich nicht mal richtige Regenkleidung zulegen möchte. Ein Cape sei richtige Regenkleidung, ist die unvernünftige Antwort. Er hält mir den dampfenden Becher hin. Die lange Gerade in Richtung Gonsenheim verschwimmt dahinter. Den Zitronengeschmack kann ich nur erahnen.
Die Kurve ist ein beliebter Unfallort. Am Ende der langen Geraden trägt es die coolen Jungs dann heraus und sie wickeln sich um einen der vielen Bäume hier. Mit so viel Dummheit haben wir zum Glück nichts zu tun. Der Abschleppdienst kratzt sie schließlich wieder von den Bäumen ab. Aber jemanden totfahren und dann abhauen, das ist ein ganz anderes Kaliber.
Am Ausgang der Kurve steht ein dunkler Phaeton mit mafiös getönten Scheiben.
»Der Staatsanwalt ist auch noch da, hmm?«
»Ja, wahrscheinlich wartet er, bis es aufhört zu regnen.«
Der Tee nagt an meinen Zähnen – er muss süß sein wie Hölle. Ich lasse ihn unbemerkt in die Pfütze neben mir laufen.
»Okay, dann lass uns den Guten mal näher anschauen.«
»Den ›Guten‹ hat es übel erwischt. Mach’ dich auf einen unschönen Anblick gefasst.«
Ein paar SpuSikollegen kämmen sich durch Matsch und nasses Gras. Frank macht ihnen ein Zeichen und wir steigen in den Straßengraben hinab. Die Plane liegt großflächig über dem Toten, aber oben, am Kopfbereich, ist sie nicht großflächig genug: Gras und Erde sind dunkel eingefärbt. Davor darf ich jetzt in die Hocke gehen. Ich nicke Frank zu und er schlägt die Plane zurück. Ach du scheiße, da … da ist ja wirklich kaum mehr etwas zu erkennen. Der Kopf im wahrsten Sinne des Wortes zu Matsch gefahren. Mein Magen fängt an zu würgen. Zum Glück habe ich heute morgen nicht auf Reiner gehört und mir sein ›Erkältungsfrühstück‹ reingequält. Und jetzt: Den Blick kurz abwenden, den Würgereiz beruhigen, Atem holen – und wieder hinschauen, auf das Gemisch aus Hautfetzen, Knochensplittern, Blut, Hirn und anderem Zeugs. Das einzige, was sich noch klar identifizieren lässt, ist das elastische Knorpelgewebe, ein Ohr, die Nase am Rand. Das könnte darauf hin deuten, dass der Kopf … zur Seite gedreht war, nur … zu welchem Zeitpunkt? Ein Büschel Haare steht zerzaust aus dem Blut-Schädel-Hirngemisch hervor. Nahezu unbefleckt. So muss das ganze Haar einmal ausgesehen haben, hellblond. Und die Augen?
»Frank, was ist mit den Augen?«
»Die gibt es nicht mehr, die platzen ab einem gewissen Druck wie reife Schoten.«
Danke für die anschauliche Erklärung. Dem Regen ist es egal. Er tropft auf das, was einmal ein Kopf gewesen ist wie auf das umliegende Gras und die umliegenden Bäume, rinnt an den Rissen und Spalten des toten Fleischs hinab. Alles die gleiche Materie – genau so muss man es sehen.
»Kannst Du mir den Ausweis mal geben?«
»Von ihm? Was … ?.«
»Vergleichen. Tot und lebendig.«
Jetzt fängt das Gewurschtel unter dem Cape an. Das kann ich nicht mitansehen. Einer von der SpuSi robbt waldeinwärts durchs Gebüsch. Zum Glück hat es den Toten nicht dorthin gelegt. Dieser fette, kniehohe Pflanzenbewuchs ist einfach widerlich – und erst das Getier darin.
»Hier.«
Wasser schliert an der Laminierung abwärts, Endlich, Peter, 36 Jahre, wohnhaft hier in der Stadt, am Gartenfeldplatz. Das Foto zeigt ein langes, knochiges Gesicht, kurze, blonde Haare und die Augen … die Augen sind blau … blau und irgendwie in die Ferne gerichtet, selbst in der biometrischen Frontalansicht. Das ist jetzt alles vorbei, kein Blick mehr, keine Ferne, nur noch totes zertrümmertes Fleisch. Wie wohl der Rest dazu aussehen mag?
»Kannst Du ihn mal ganz aufdecken?«
In der Lunge sammelt sich der nächste Hustenreiz. Das ist der Vorteil, wenn man tot ist. Toten sind solche Scheißerkältungen fremd. Der Husten schüttelt mich kurz durch. Frank zieht die Plane bis zu den Füßen hinab, sein Blick zeigt, dass er das nicht gut heißt, den Husten, den Regen, den aufgeweichten Toten: auf den Fotos der SpuSi könnte ich genau das gleiche sehen, im Trockenen. Wasser läuft an den Seiten der Plane herunter. Nein, das könnte ich nicht, Fotos sind eben nur Fotos.
Wenn man von dem Dreck auf den Klammotten absieht, ist der Tote halsabwärts fast unversehrt: Lederjacke, Jeans, Stiefel, nichts davon ist zerrissen oder aufgeschürft, nur die linke Hüfte ist etwas abnormal verdreht. Das Knie abgewinkelt, man meint die Knochen förmlich zu sehen. Ein richtiger Schmalhans ist das. Um ihn auszuknocken hätte es vermutlich auch weniger getan.
»Wenn man den Kopf nicht kennen würde, käme man nicht auf Anhieb auf die Idee, dass ihn ein Auto überrollt hat.«
»Genau das dachte ich auch, als ich ihn vorhin hier liegen sah.«
»Hat Mahler schon eine seiner erhellenden Expertisen abgegeben?«
»Nein, der hat heute Vormittag scheinbar frei.«
Bei dem Wetter lässt er wohl lieber die Kollegen durch den Matsch robben. Für diesen unkollegialen Gedanken gibt es gleich einen Hustennachschlag.
»Die SpuSi meint, er könnte an der Hüfte erfasst worden sein und dann … .«
»… hat ihm ein zweites Auto den Garaus gemacht.«
»Genau.«
»Klingt nicht besonders wahrscheinlich.«
»Nein.«
Meine nassen Finger spielen mit dem nassen Ausweis.
»Hat er sonst noch etwas bei sich gehabt?«
Frank zieht die Plane mit einem vielsagenende Blick wieder nach oben.
»Durchaus, wir nennen es die zwei ›P’s‹.
»Die zwei ›P’s‹?«
»Waren in den Saum der Lederjacke eingefasst und sind jetzt ebenfalls sicher hier unter meinem Cape verwahrt.«
»Komm, jetzt mach’ es nicht so spannend.«
Das Gewurschtel fängt von neuem an, diesmal scheint er aber nicht ganz so tief wühlen zu müssen. Mit einer schwungvollen Bewegung hält er mir eine Tüte vor die Nase.
»Voilà, die zwei »P’s.«
Ich schaue die baumelnde Tüte an, darin … eine Peitsche und ein Penisring. Der Penisring ist nach innen gezackt. Reiner hätte seine Freude daran.
»Sieht nach speziellen Vorlieben aus.«
»Das kann man wohl so sagen«, antwortet Frank.
Er sagt das ganz nüchtern, ohne schmieriges Grinsen in der Fresse. Allein dafür arbeite ich schon gerne mit ihm zusammen, auch wenn das Cape … . Er will die zwei »P’s« wieder darunter verstauen.
»Wartewarte, gibt es schon weitere Erkenntnisse über die beiden … Sachen, außer dass sie mit »P« anfangen?«
»Nein, darum kümmern sich nachher die Labormäuse.«
»Das war meines Wissens früher mal anders.«
»Zu wenig Leute, wie überall.«
»Aber ein Getränkeautomat.«
»Genau.«
Wir krabbeln aus dem Straßengraben heraus. Ich bin froh wieder Asphalt unter den Füßen zu haben. Ein Kollege führt einen Meg-Analysator darüber, Analyse der Bremsspuren. Der Meg surrt vor sich hin, kein Ausschlag, nichts.
»Keine Bremsspuren?«
»So gut wie keine. Was auf den ersten Blick auch nicht ganz unplausibel ist: Dunkelheit, eine nicht einsehbare Kurve, ein dunkel gekleideter Fußgänger auf der Fahrbahn.«
Ja, klingt durchaus plausibel. Die Frage ist nur, ob das die einzige Erklärung sein muss. Nur wird es hier im Moment keine Antwort darauf geben.
»Bringst du das hier mit der SpuSi zu Ende?«
»Und du?«
»Fahre kurz zum Trocknen in die Dienststelle und dann zur Adresse des Toten, mit dem Ausweis.«
»Aber der Ausweis … .«
… ist ein noch nicht freigegebenes Beweisstück.
»Ich weiß, aber du regelst das schon.«
Ich klopfe ihm auf die patschnasse Regencapeschulter.
»Du meinst, mich anraunzen lassen?«
»Das perlt doch locker an dir ab, wie der Regen an deinem Cape.«
Stimmt sagt er und grinst.
Für eine kleine, harmlose Unregelmäßigkeit ist Frank immer zu haben. Ich gehe am Meg-Analysator und dessen Gesumme vorbei. An der Absperrung wartet bereits der Leichenwagen.