REINER KÖRPER

Aus Greifenrath wird man einfach nicht schlau. Ist er jetzt zufrieden gewesen mit den ersten Ergebnissen? Immerhin können wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Tote nicht der ist, der er laut Ausweis sein sollte. Das ist zwar erst einmal ein negativer Befund, aber durch Ausschließen kommt man ja auch der Wahrheit auf die Spur. Obwohl es mir ehrlich gesagt auch lieber wäre, wir könnten sagen: Hier Ausweis, da Leiche, passt, jetzt müssen wir nur noch diesen Abschaum finden, der sie plattgefahren hat. Vor lauter Leichenbeschau hatten wir kaum Zeit, erste Spuren dazu zu ermitteln. Wenn es nach Frank geht, soll ich mir wegen Greifenrath keine Gedanken machen, der sei eben so, nicht ganz leicht zu durchschauen, aber ansonsten ein guter Chef. Das mache ich ja auch nicht, mir Gedanken. Nur dumm, dass wir am meisten über die Person wissen, die am unklarsten in den Fall verwickelt ist. Nichts über den Abschaum und nichts über den Leichnam, der da bei Martenstein im Leichenlager liegt. Ob er bis morgen schon was neues herausgefunden hat? Diese Narbe, von der er sprach, was hat er gemeint, sie sähe etwas dunkel aus? Tun das Narben nicht immer? Nein eigentlich sehen die eher speckig-rosa aus, wie schlecht zugewachsenes Fleisch, das stimmt schon. Mann, wie er aus heiterem Himmel mir das »Du« angeboten hat, ich solle doch Jan zu ihm sagen. Hoffentlich habe ich mich nicht zu dämlich verhalten, so Gefühlssachen kriege ich einfach nicht richtig gut hin. Seine Ehe scheint im Moment nicht gerade rund zu laufen, ob das vielleicht ein Zeichen ist oder sowas? Ach Zeichen, so ein Quatsch – und dennoch, als wir da zusammenstanden und den beiden Alten hinterherschauten, da ist viel Wärme drin gewesen, in seiner Anwesenheit. Ob er mich vielleicht auch mal zu einem Drink …?
Wie? »Ob dir das Essen schmeckt. Die Rucola und die Pinienkerne.« Reiner schaut mich erwartungsvoll an. Er hat seine dickrahmige Brille abgenommen. Früher hätte man so etwas ein Kassengestell genannt. Warum muss er immer zu diesem Billigoptiker gehen? Dafür können wir ins Kino oder ins Theater, argumentiert er. Ich kann Theater nicht leiden. Graue, farblose Augen, die in immer tiefer werdenden Augenringen auslaufen – ob sich daraus bald Tränensäcke bilden? Seine Wangen werden bereits schlaff, obwohl er gerade einmal Ende dreißig ist. Den Bauchansatz versteckt der Tisch. Martenstein, Jan, dagegen hat keinen Bauchansatz, das kann man sehen, wenn er einem mit wehendem Kittel entgegenkommt. Er achtet auf seine körperliche Verfassung. Vielleicht geht er sogar mal zum Klettern mit, was Reiner ja schon seit Jahren nicht mehr macht, kein Wunder bei der körperlichen Verfassung. Das ausgewaschene T-Shirt steht an seinen Armen ab. Es ist Sonntag, kann er da nichts besseres anziehen? »Ja, die Pasta ist sehr lecker, ich habe nur keinen richtigen Hunger, was wohl noch an der Erkältung liegt.« Warum sage ich das bloß? Es liegt nicht an der Pasta sondern an ihm. Weil er sie gekocht hat. Eine Abneigung, ein Widerwille gegenüber all dem, was er tut. Die Begrüßung an der Tür: Hallo Schatz, wie war dein Tag? Was er sagt. Wie soll er schon gewesen sein, der Tag? Anstrengend, aber ich könne nicht viel davon erzählen, laufende Ermittlungen, er verstehe. Den Kuss konnte ich zum Glück abwehren, er solle mich doch erst einmal reinkommen lassen. Und die Erkältung? Sei okay, wie am Telefon bereits erwähnt. Ein paar Vitamine würden mir aber sicher noch gut tun. Er wiederholt sich. Gegenüber seiner ganzen Anwesenheit – sie nimmt mir alle Energie. Nicht einmal mehr anschreien kann ich ihn, Maul halten! Was ist aus uns nur geworden? Vielleicht kommt auch einfach nur die Erkältung zurück. Die Muskeln tun weh, die Nase ist wieder verrotzt und in den Bronchien sammelt sich die nächste Hustenattacke. Ich sollte einfach ins Bett gehen, damit ich morgen wieder etwas fitter bin. Wer weiß, welche Überraschungen diesmal auf uns warten. Auf Teelichter kann ich gerne verzichten. Wie kitschig sie in der Schale Wasser schwimmen? Die kleinen Flammen flackern wie brennende Nussschalen hin und her – und mein Kopf glüht mit im Dreivierteltakt. Am besten betäube ich das alles, für heute, die Erkältung, den seltsamen Toten, die auf dem Tisch ausgestreuten Rosenblätter, Reiners Anwesenheit. Er könnte genauso gut auch an einem anderen Tisch sitzen, in einem anderen Zimmer.
»Schenkst du mir noch ein wenig von dem Wein nach?« Aber Reiner schenkt nicht nach. Er schiebt die Weinflasche zur Seite, legt sein Besteck an den Tellerrand, wischt sich mit der Papierserviette den Mund ab und schaut mich mit trübem Blick an. »Warum behandelst du mich in letzter Zeit so?« »Wie so?« Doch ich weiß genau, was er meint. »So distanziert und abweisend.« »Reiner, schau, ich bin einfach nur müde, es ist heute wirklich anstrengend gewesen und die Erkältung ziemlich hartnäckig.« »Das meine ich nicht. Auch wenn das alles nicht da ist, komme ich nicht mehr an dich ran, ich kann mich mühen und zuvorkommend sein wie ich will … .« Stimmt, er müht sich, kocht, deckt den Tisch mit dem besten Geschirr und mit schwimmenden Kerzen und morgen früh um sechs muss er wieder in seinem Logistikzentrum antreten. Aber ist es nicht gerade das, diese Selbstaufgabe? Ist er überhaupt noch jemand? Wenn wir abends Fernsehen schauen, nicht diese dummen Talkshows, sondern etwas anderes, Dokumentationen zum Beispiel, lässt er am Ende immer mich entscheiden. Hat er überhaupt noch eigene Wünsche? Es gibt nicht einmal mehr Streit. Vielleicht deutet er das als Fortschritt, dass alles wieder gut würde, aber das tut es nicht. »Ich bin … nicht abweisend. Warum fängst du immer wieder damit an? Diese Diskussion bringt doch nichts. Gerade heute Abend. Ich kann wirklich kaum mehr gerade sitzen.« »Mit einem weiteren Glas Wein wird es auch nicht besser.« »Warum hast du ihn dann überhaupt aufgemacht?« »Weil ich mir einen schönen gemeinsamen Abend versprochen habe.« »Nach einem Arbeitstag?« »Warum denn nicht. Die meisten Abende sind nach einem Arbeitstag.« »Reiner, bitte, wir sollten das nicht weiter erörtern.« »Wie du willst.« Er nimmt die Flasche Wein und schenkt mir das Glas fast bis an den Rand voll. Feine Bläschen perlen in der hellen Flüssigkeit nach oben. Die leere ich jetzt in einem Zug, aus Trotz. Reiner kann also doch noch Emotionen in mir hervorrufen, was umgekehrt scheinbar nicht mehr gelingt. Er starrt mich an, schüttelt den Kopf und isst dann weiter seine Pasta. Das ist alles, was er dazu beizutragen hat. Warum nimmt er mir nicht einfach das Glas aus der Hand? Schreit mich an, dass es jetzt gut sei? Der Wein schmeckt in dieser Menge säuerlich, der Alkohol rinnt scharf die Kehle herunter. Scheiße, ich bekomme fast keine Luft beim Trinken. Egal.
Die Flammen der Teelichter fließen ineinander. Mein Körper macht es nach, er wird zu einer ineinanderfließenden Masse, aus Erkältung, Betäubung und … ja was? … Leere vermutlich. Der Alkohol steigt zu Kopf und in die Glieder. Reiner steht auf und räumt den Tisch ab. Er fragt nicht einmal, ob ich fertig gegessen habe, sondern nimmt meinen Teller einfach mit. Das Weinglas lässt er stehen. Wenn ich mich volllaufen lassen wolle, bitte. Säure brennt in der Speiseröhre.
Reiner macht in der Küche Aufräumgeräusche, Geschirr, Spülmaschine, Spüle. Die Geräusche kann ich nur erahnen. Ich komme mir wie in Watte gepackt vor, Watte von hoher Dichte. Der Wasserkocher brodelt, als würde er nicht um die Ecke sondern hundert Meter weiter stehen. Warum kann nicht immer alles so weit weg sein, der ganze Scheiß, der ganze Abschaum? Vielleicht sollte ich ma Urlaub machen, jawoll, eine Fernreise. Jan, tät ich Martenstein fragen, Jan, wollen wir im Sommer nich …? Schritte kommen ausser Küche. Reiner steht mit … mit ’ner dampfenden Schüssel vor mir, ein Hanntuch am Arm baumelnd, hihi, die Brille beschlagen. »Ich habe dir noch ein Dampfbad gemacht. Das hat dir doch die letzten Abende bereits gut getan. Und danach sollten wir langsam ins Bett gehen. Wir müssen beide morgen früh raus.« Widerstand issa wohl zwecklos. Langsam ins Bett, ja, wo du ma recht hass mein Lieber, hasse ma recht. Minzöl tropft ins heiße Wasser unn dann wird’s dunkel und heiß und feucht im Gesicht. Des Minzöl dampft bis runter bis innie Bronchitis. Wie lange? 10 Minuten. So lang? – und dabei nie das Atmen vergessen, wie beim … ach samma … na scheißegal.
Und dann wird es wieder Licht. Die ganze Wohnung dampft. Mim Hannuch mal abwischen. So schön weich und frisch, aprilfrisch. Reiner schüttet die Schüssel in der Küche aus. Ich gehe dann schon mal vor. Hoppala, Stühle treten in den Weg, aber das Dampfbad hat wirklich gut getan. Nur zugeben darf ich das nüch … nicht, weil … weil … was ist denn das? Huuuh, auf der Treppe nach oben ins Schalf, tschulligung, Schlafzimmer hat Reiner auch Teelichter und Rosenblätter ausgestreut. Da muss man ja gucken, wo man hintritt.
Da isses Schalfzimmer, aber zuers … zuers geht man noch ins Bad, jawoll, den säuerlichen Geschmack im Mund, den muss man sich rauswaschen vorm, na, vorm Hinlegen, wer weiß was damit im Schalf alles passiert. Wo issn die Schahncreme, die stand doch immer, ah hier, wer hat die denn und der Schraubverschluss, willsu vielleicht aufgehen – so! Borsten schrubben durch’n Mund, Minzgeschmack, schon wieder, nur diemal wie’n Pffefferminzstrauch küssen und den Kuss dann ausspucken. Weißer, dicker Schaum strudelt den Abfluss hinab, hoppla was issn da los, die Schahnbürste will nüch in den Becher zurück, bleibste mal … so jetzt. Viel länger hätt ich auch nich mehr zielen können, muss ganz dringend pieseln, was so’n bisschen Wein alles für’ne Wirkung hat, Deckel hoch, Hose runter, ja ganz wichtig und schon gehts los, wie’n Wasserfall. Das Toilettenpapier ist auch irgendwie runder als sonst, rollt sich immer weg, kommste her du Luder, ah jetzt hab ich dich – und Spülen nich vergessen. Jetzt aber ab in die Falle, die Dings na die Klamotten noch aussiehen, mit denen geht man nüch ins Bett, da is Dreck dran vonner Straße, der bleibt hier aufn Stuhl liegen. Der Pütschama is auch viel besser, weich wie Seide und das Bett ers, hmmmm, so gemütlich, wie auf einem Sack Federn, ja, Federn, Engelsfedern, schnipp, schnapp, schnuu … .
Was, was ist denn das? Die Matratze bewegt sich … die Bettdecke wird zurückgeschlagen, ist das etwa …? Reiner legt sich neben mich. Ich habe ihn gar nicht hereingekommen gehört. Bin weggedöst wie ein Stein, zur Wand gedreht. »Was hast du denn noch so lange unten gemacht?« »Nachgedacht.« Ich spreche mit der Wand und er antwortet. »Und mit welchem Ergebnis?« »Ob wir nicht doch noch ein Kind machen wollen.« Was? Darüber kann er doch nicht ernsthaft nachgedacht haben. Aber da spüre ich schon seine Hand auf meiner Schulter. »Kinder können eine Beziehung beleben.« Ja, wenn denn noch etwas zu beleben ist. Doch das ist der Hand egal. Sie kriecht unter meinen Pyjama. Dann kommt der Mund hinzu, auf meinem Nacken. Atem riecht nach Knoblauch und nach Wein. Meiner ist wahrscheinlich nicht viel besser, trotz Minze.
Die Hand bewegt sich über meinen betäubten Körper. »Wie kann eine Frau nur solche Schultern und solche Oberschenkel haben«, murmelt er.« Er schiebt seinen Körper heran, Körperwärme, wenigstens das, auch wenn er sich nur holt, was er verdient zu haben glaubt. Allein dafür müsste ich eigentlich auf ihn eindreschen, aber ich kann mich kaum bewegen, der Wein, die Erkältung – und seine Berührungen, sein Atem, seine Worte wirken wie ein zusätzliches lähmendes Gift. Vielleicht ergebe ich mich jetzt auch einfach nur. Ich habe keine Kraft mehr zu kämpfen. Ich muss das jeden Tag, jede Stunde. Aber ein Kind wird er mir niemals machen. Als Kriminalinspek … dings … Torin habe ich immer eine Sicherheitsmaßnahme mehr als die anderen. Die Hand kriecht unter den Slip, zwischen die Beine. Aber da ist noch etwas anderes, etwas cremiges. »Was ist das?« »Das ist schmelzende Butter. Ein natürliches Gleitmittel. Sie ist vom Kochen übrig – wenn du schon keinen Appetit auf meine Pasta gehabt hast. Ich habe ja schließlich auch Wünsche.« Also doch. Sein Bauch an meinem Rücken, sein Geschlecht. Der Bauch zuckt. Er wird mir weh tun, was ich früher sogar genossen habe. Das ist in Ordnung, die Butter auch, aber nicht diese Stellung, nicht von hinten. Er weiß genau, das ich das nicht mag. Aber er will es nicht hören, macht weiter. Die Wut darüber schlägt Risse in die Betäubung. Übung Nummer 6, unter Drogeneinfluss die Kontrolle behalten, ach Scheiße. Meine Hand schnellt nach hinten und packt seinen Unterarm. Eine schnelle Drehung des Oberkörpers, die Beine wie eine Zange um sein Becken, dann sitze ich auch schon auf ihm, seine Hände im Knebelgriff. Doch in seinen Augen ist keine Überraschung, sondern etwas anderes: Wut und Begehren. Ich weiß, wohin das führt. Er zischt: »Los, schlag mich!«
Die Verführung ist groß. Die Butter zwischen meinen Beinen rinnt auf die Innenschenkel, dort, wo die Wärme bei diesen Worten immer explodiert ist. Doch diesmal gebe ich ihr nicht nach, ich will das nicht, nie wieder, selbst seine irren Augen werden mich nicht dazu bringen. »Nein, das werde ich nicht tun.« »Wieso nicht?« »Weil es vorbei ist, verstehst du, es ist vorbei.« Seinen Kragen zu einem Knäuel packend steige ich von ihm ab, wie früher, nur ohne Pferdegeschirr. »Was machst du?« »Decke und Kissen nehmen und dann im Wohnzimmer weiterschlafen. Das geht so nicht mehr Reiner.« »Was geht so nicht mehr? Dass ich alles für dich mache, bis zur Selbstaufgabe und du dann nicht einmal mehr mit mir schlafen möchstest. Ist das der Lohn dafür?« »Ja, das ist er wohl.« Wilder Zorn flackert in seinem Gesicht, ich muss auf der Hut sein, auch wenn es noch so schwer fällt. Warum lässt er mich nicht einfach meinen Rausch ausschlafen? Doch der Zorn bricht schon im nächsten Moment in ein Nichts zusammen. Eine Maske mit knarzender Stimme antwortet: »Wie du willst. Wenn du nach unten gehst, dann sammle bitte gleich die Teelichter auf den Stufen ein. Die brauchen wir wohl nicht mehr.« Die Teelichter, ja, ich werde sie einsammeln und mit den anderen in der Schüssel ertränken.