FALSCHE ZEICHEN

Martenstein hat den Toten aus dem Kühlfach gezogen, Fach Nummer 23, und den zertrümmerten Kopf wieder dezent mit dem dunklen Tuch abgedeckt. Er steht daneben und erwartet seine Gäste, wie heute morgen bei Frau Saxild, nur dass ich diesmal zwei ältere Herrschaften vorbeibringe. Herr Endlich zögert, als er den Leichnam erblickt, seine Frau geht weiter, langsam, aber unbeirrt, als läge dort auf der Bahre nichts was zu fürchten wäre. Sie bleibt am Fußende stehen und schüttelt leicht den Kopf. Was bedeutet das? ›Das darf nicht wahr sein‹ oder ›das ist er nicht‹? Martenstein schaut kurz zu mir. Seine Augen scheinen zu sagen: ›Ich weiß wie das hier ausgeht‹. Herr Endlich ist in der Mitte des Raumes stehengeblieben. Er schaut auf die Bahre, dann zu seiner Frau und geht dann zögerlich zu ihr.
»Erkennen Sie etwas an der Kleidung, Frau Endlich?«
»Nein, unser Peter hat nie Stiefel getragen, solche schon gar nicht und die Jacke … nein.«
»Den Kopf … .«
Herr Endlich starrt auf das dunkle Tuch, unter dem sich der zertrümmerte Kopf abzeichnet.
»Nicht Herr Endlich, schauen Sie wie gesagt nicht auf den Kopf. Konzentrieren Sie sich auf die anderen Körperteile. Hat ihr Sohn besondere körperliche Merkmale, Muttermale oder … Narben.«
Am Unteram zum Beispiel.
Endlichs schauen sich an.
»Dürften wir bitte den rechten Oberschenkel sehen?«
Martenstein knöpft mit einem Ruck die schmutzig-steife Jeans auf und zieht sie auf die Hälfte der Oberschenkel herunter. Der Slip … ich möchte ihn gar nicht anschauen, schwarze Flecken … die Oberschenkel sind kaum behaart. Frau Endlich schaut auf die Außenseite des Oberschenkels:
»Das … ist nicht unser Sohn.«
»Woran erkennen Sie das?«
»An der Haut. Die große rote Stelle fehlt. Unser Peter hat sich als Kind mit kochendem Wasser verbrüht. Das wuchs nie wieder raus.«
»Verbrüht, ja«, murmelt Herr Endlich zustimmend.
Okay, dann … . Ich schaue Martenstein an, er versteht sofort, was ich möchte und zieht die Ärmel von Jeansjacke und Hemd nach oben, fahlweiße Haut.
»Fällt Ihnen vielleicht auch hier am Unterarm etwas auf?«
Endlichs schütteln den Kopf. Das wird ja immer besser.
»Die Zeugin von gestern, eine Bekannte von ihrem Sohn, hat ausgesagt, dass er am linken Unterarm … schwarze Linien, einem Tattoo ähnlich, unter der Haut habe. Angeblich von einem Arbeitsunfall mit einem Tuschefüller. Wissen Sie etwas davon?«
Herr Endlich findet die Sprache wieder.
»Des kann schon sein, er hat eine zeitlang als … Dings … na … als Elektrozeichner gearbeitet, da drüben, in Bischem, bei der großen Firma, Thyssen-Krupp, die mit dem Stahl. Seit der Verbrühungssache hat er ja keine kurze Sachen mehr angezogen und geredet hat er über sowas ja auch nicht gern.«
Eine klare Bestätigung hört sich anders an.
»Dennoch sie sind sich sicher, dass der Tote hier nicht ihr Sohn ist.«
»Ja.«
»Und Sie wissen, dass ich Sie schriftlich an diese Aussage binden werde?«
»Das ist er nicht.«
Martenstein zieht den Ärmel wieder nach unten und die Hose, kurz zögernd, scheinbar hat sich etwas verhakt, schließlich mit einem kräftigen Ruck wieder hoch. Er hat nichts anderes erwartet, auch wenn das Mal ein Schönheitsfehler in der Aussagekette ist.
»Dann möchte ich Sie kurz zur Aufnahme und Unterschrift Ihrer Aussage bitten.«
Die Aussagen werden bestätigen, dass der Tote da, den Martenstein jetzt wieder zurück in sein Leichfach schieben wird, nicht Peter Endlich ist. Nach der Ockenheimmethode ist das dennoch kein hinreichender Grund, die Identitätsthese aufzugeben: Warum einen Toten und einen Verschwundenen annehmen, wenn Indizien wie der Ausweis auf eine einfachere Hypothese hinweisen: Dass nämlich beide die gleiche Person sind. Aber Ockenheim hat weder Frau Saxild noch Endlichs Eltern kennengelernt. Man könnte zwar sagen, dass alle drei Zeugen ein Motiv hätten, ihre Augen vor der Wahrheit zu verschließen, doch das wäre schon ein großer psychologischer Zufall. Wenn das aber da im Leichenfach nicht Endlich ist, wer ist es dann? Und wie, verdammt, ist er an dessen Ausweis gekommen? Sind sich beide in der vergangenen Nacht etwa begegnet? Die Milchglastür geht mit einem heftigen Ruck auf, ups, das war wohl etwas zu fest an der Schnur gezogen. Endlichs schauen mich kurz verdutzt an. Ich lasse mir nichts anmerken und zeige sachlich auf den Nebenraum:
»Bitte nochmals hier herein.«
Sie setzen sich auf die zwei kargen Stühle, sichtlich erleichtert. Der Rechner wacht aus dem Schlafmodus auf. Hier in dem Ordner muss noch Frau Saxilds Aussage liegen. Einfach ›Tuschemal am linken Unterarm‹ durch ›Verbrühungsflecken am rechten Oberschenkel‹ ersetzen. Das ist alles. So - und drucken. Ein Papier für die Frau, eins für den Herrn.
»Bitte lesen sie das Papier sorgfältig durch und unterschreiben Sie dann da unten.«
Herr Endlich starrt das Blatt an.
»Muss ich mit meinem offiziellen Namen, also Heinrich Jakob … ?«
»Ihr ganz normaler Rufname reicht, Herr Endlich. Mit den unterschriebenen Aussagen würde ich sie dann mit ins Präsidium nehmen. Dort können Sie die Vermisstenanzeige für Ihren Sohn aufgeben.«
»Das … ist nicht nötig«, antwortet Frau Endlich, die unterschriebene Aussage zurückreichend.
»Aber wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Sohn verschwunden ist.«
Sie streicht mit dem Finger über die Tischkante.
»Das ist … wie Sie jetzt ja wissen … nicht ungewöhnlich. Erst nach mehr als einer Woche müssen wir uns Gedanken machen. Aber ich bin sicher, dass er wieder auftauchen wird.«
»Sehen Sie das auch so Herr Endlich?«
»Ja, meine Frau hat Recht. Für eine Anzeige ist es noch zu früh.«
»Ich muss Sie jedoch darauf hinweisen, dass wir ohne Vermisstenanzeige von Ihnen, als nächsstehende Verwandten, keine offizielle Suche nach ihrem Sohn einleiten können.«
»Müssen wir das auch unterschreiben?«
»Nein, Sie müssen es nur verstehen.«
»Das haben wir.«
Wenn es denn so wäre. Eine Vermisstenmeldung würde auch für die weiteren Ermittlunge hilfreich sein. Wie kann man denn unter diesen Umständen nur glauben, dass alles wieder von allein gut wird?
»Außerdem sollten Sie bedenken, dass die Art und Weise, wie der Motorroller Ihres Sohnes zurückgelassen wurde, nicht danach aussieht, als hätte er sich für ein paar Tage in die Einsamkeit zurückgezogen.«
»Darüber denken wir nach, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
Wenn das so ist, bleibt mir nur noch das übliche zu sagen: Hier meine Visitenkarte, falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie sich anders entscheiden. Aber auf Grund des Ausweises und der Vespa bleibt der Sohn in den Fall verwickelt. Er ist neben dem Toten vielleicht der einzige, der weiß, was in der Unfallnacht geschehen ist. Und der Tote kann nix mehr sagen.
Herr Endlich nimmt die Visitenkarte stolz entgegen und gibt sie dann seiner Frau weiter.
»Gut, dann würde ich ihnen jetzt ein Taxi rufen, das sie wieder nach Hause bringt.«
Herr Endlich schaut mich etwas enttäuscht an.
»Sie fahren uns nicht wieder zurück?«
»Leider nein, ich muss wie gesagt ins Präsidium, aber ich werde Ihnen eine schöne große Limousine bestellen.«
»6-Zylinder?«
»Mindestens.«
Mal sehen, was sich machen lässt. Die Nummer sollte im Handy gespeichert sein, T wie Taxi, ah hier: Taxi-Zentrale 910910. Ihre Verbindung wird aufgebaut, sehr schön.
»Taxizentrale Mainz, Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
»Gruber, Kripo Mainz, Guten Tag. Ich bräuchte ein Taxi von der Rechtsmedizin nach Nordelsheim.«
»Das Gebäude am Pulverturm?«
»Genau.«
»Für welche Uhrzeit?«
»Jetzt gleich. Wenn es geht einen schönen, geräumigen Wagen.«
»Einen Moment, ich schaue kurz nach. Wir habe gerade eine Fahrt zur Kupferbergterrasse, also gerade um die Ecke, eine S-Klasse.«
»Wieviel Zylinder?«
»Acht soweit ich weiß. Schnurrt wie ein Tiger.«
»Sehr gut, das ist genau das richtige.«
»Der Wagen kommt nach dem Ausladen direkt zu Ihnen. Ca. 15 Minuten.«
In 15 Minuten ist zwar nicht gleich jetzt, aber egal.
»Alles klar. Vielen Dank.«
»Gern.«
Das Handy geht zurück in den Ruhemodus. Endlichs schauen mich gespannt an.
»Das Taxi kommt in 15 Minuten, wie sie wahrscheinlich gehört haben. Wir können oben am Eingang darauf warten. Dort gibt es eine kleine Sitzecke und einen Kaffeeautomaten. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Wenn es keine zu großen Umstände macht, gern. Nach der Aufregung gerade.«
»Dann bitte hier entlang zum Fahrstuhl.«
»Den Fahrstuhl?«, ruft Herr Endlich halbentrüstet aus, »wir sind doch keine alten Leut’, oder Eva?« und marschiert mit strammem Schritt der Treppe entgegen.
Seiner Frau entlockt das nur einen leichten Seufzer.
»Immer muss er vorne weg rennen.«
Im Gegensatz zu ihrem Mann arbeitet sie sich förmlich die Treppe hinauf. Aber den Fahrstuhl hat sie dennoch abgelehnt. Zu Hause müsse es ja auch ohne gehen. Die letzte Stufe erreichend sehen wir Herrn Endlich neben der Sitzecke bereits am Kaffeeautomat stehen.
»Ist das der Apparat?«
»Ja, das ist er.«
»Donnerwetter!«
»Was hätten Sie denn gerne?«
»Einen Kaffee, das ist doch eine Kaffeeautomat?«
»Ja schon, aber es gibt verschiedene Kaffees, Café Crême, Cappuccino, … .«
»Ach nicht dieses moderne Zeug, einfach einen Kaffee mit ein bisschen Milch und Zucker.«
Wie der Herr wünscht. Der Kaffeeautomat lässt den Becher in die Halterung fallen und fängt an die Bohnen klein zu häkseln, brüht sie auf, Milchpulver dazu. Herr Endlich ist noch immer verblüfft, dass er hier echten, gemahlenen Kaffee bekommt. Zuhause trinke er nur Rührkaffe, weil man da nicht so lange warten müsse. Er nimmt den dampfenden Becher fast andächtig entgegen. Frau Endlich möchte nur ein Wasser aus dem Wasserspender. Die Erleichterung, dass da unten nicht ihr Sohn liegt, ist den beiden anzusehen, auch wenn ich ihre Haltung zur Vermisstenmeldung nicht teile. Bis das Taxi kommt, würde ich zumindest noch gerne etwas von ihm und der Freundin erfahren.
»Erzählen Sie mir doch ein wenig von ihrem Sohn und von Olga Galberin.«
Die beiden schauen sich an. Herr Endlich stellt schließlich den Kaffeebecher auf den Tisch und setzt sich im Sessel zurecht, Erzählerposition.
»Also … unser Peter ist der Zweitälteste von unseren drei Kindern. Nach dem Jörg und vor der Marion. Immer schön zwei Jahre auseinander. Im Gegensatz zu seinen beiden … ähm, na, wie sagt man … Geschwister, ist der Peter ein ruhiger und zurückhaltender Bub gewesen. Er hat früh viel gelesen und sich über alles mögliche Gedanken gemacht. Das hat er mütterlicherseits geerbt, von der Biebelnheimer Linie. Meine Frau hätte ja auch Abitur machen können, aber das hat’s damals in der Landwirtschaft einfach nicht gegeben. Da musste man schon mit zwölf, dreizehn mithelfen. Obwohl … mein Großvater auch gute Aufsätz’ hatt’ schreiben können. Aber so weit wie unser Peter hat’s noch niemand in der Familie gebracht: Professor für Philosophie an der Universität. Da sind mir schon ein bisschen stolz, gell Eva.«
Frau Endlich nickt. Ja, das sind wir.
»An der Universität hier in Mainz?«
»Genau, die vom Gutenberg.«
Ganz schön jung für einen Uniprofessor. Mit dem Titel müsste man eigentlich jeden Monat ein gutes Gehalt mit nach Hause nehmen – so wie Martenstein. Die Wohnung dagegen sah nicht gerade danach aus. Die Klamotten unseres Toten da unten aber auch nicht. Würde ein Philosophieprofessor, auch wenn er noch jung ist, prollige Stiefeletten und eine Jeansjacke tragen? Noch so ein Indiz … .
»Da hat ihr Sohn aber eine schöne akademische Karriere gemacht.«
»Ja«, sagt Frau Endlich, »er hat das Studium mit eins abgeschlossen und hat danach gleich die Professorstelle bekommen.«
»Vom Fleck weg.«
Herr Endlich schnippt imaginäre Krümel von der Hose.
»Direkt nach dem Studium?«
»Jawoll.«
Da gehen möglicherweise die akademischen Grade etwas durcheinander. Sei’s drum. Das lässt sich vor Ort ja abprüfen. Schließen wir das Thema also höflich ab:
»Da können Sie tatsächlich stolz darauf sein. Und … wie kam es zur Freundschaft mit Olga Galberin?«
»Also, des war so … .«
Herr Endlich rutscht ein wenig im Sessel hin und her, der Blick gleitet zu seiner Frau, dann in die Luft. Dort kann ihm seine Frau auch nicht mehr helfen. Die Antwort scheint nicht ganz so einfach zu sein.
» … des ist für uns so ein bisschen wie aus heiterem Himmel gekommen. Wie gesagt, der … unser Peter ist ja eher ein stiller Bub gewesen. Er konnte stundenlang vor einem Buch sitzen und hat kein Mensch gebraucht. Was natürlich nicht heißt, dass er keine Freunde gehabt hat, ’s Beckers ihr’n Martin zum Beispiel, mit dem ist er lange gut Freund gewesen. Aber es hat immer ein bischen gedauert, bis er mit jemand warm geworden ist. Und dann müssen Sie sich vorstellen, fahr’ ich eines Nachmittags aus’m Feld heim, es ist ein ziemlich heißer Sommer gewesen, und da sitzen die zwei, unser Peter und die Olga, vorne an der Mauer, Sonnenbrillen auf und jeder eine Cola in der Hand. Ein Bild für die Götter, ich seh’s heute noch vor mir. Ich natürlich den Traktor angehalten unn gefragt, über was Interessantes sie sich den unterhalten täten und da sagt die Olga doch rack und heilig: ›Über die Steingesichter auf dem Mars.‹ Mir ist glatt der Traktor abgesoffen, so verblüfft bin ich von der Antwort gewesen. Steingesichter auf dem Mars – was das Mädchen für ihr Alter schon alles gewusst hat. In der Schule mussten sie eine, na, wie nennt man das?, so was modernes … »
»Gruppenarbeit«, hilft Frau Endlich.
»Genau, eine Gruppenarbeit mussten sie zusammen schreiben, über das Sonnensystem. So hat’s angefangen mit den beiden.«
»Und wann war das ungefähr?«
Herr Endlich reibt sich mit der Hand über die Wange.
»Des ist gewesen … die Olga war da noch nicht all zu lange bei’s Galberins, oder Eva?«
Was meint er mit ›noch nicht all zu lange‹?
Seine Frau antwortet nur zögernd.
»Ein dreiviertel Jahr vielleicht.«
»Das heißt, die Tochter war zuvor eine gewisse Zeit … nicht bei der Familie?«
Endlichs Hände drücken kleine Dellen in den Kaffeebecher.
»Also, die Galberins sind ja keine gebürtigen Nordelsheimer gewesen, sondern zugezogen, aber ganz patente Leut’. Sie hatten sich da das Häuschen in der Hintergasse gekauft, direkt neben dem Café, das haben sie ja gesehen, als mir aus’m Ort rausgefahren sind.«
»›Schrödingers Katze‹?«
»Ja genau da-neben. Und die Olga … «
Er wirft einen kurzen Blick zu seiner Frau. Sie schaut zurück, dann zur Seite.
» … des darf man der Frau Kommissarin glaube ich schon sagen … ist nicht die leibliche Tochter vom Ehepaar Galberin gewesen, sondern kurz nachdem sie nach Nordelsheim gekommen sind adoptiert worden. Es heißt, die Frau hätte, also … na, eben keine Kinder kriegen können.«
»Aha, und woher adoptiert?«
»Das dürfen die Eltern ja eigentlich nicht verzählen. Aber der Galberin Klaus und ich, mir hatten ja ein gutes Verhältnis wegen unseren zwei Kindern und den ähnliche Interessen - und mir hat er mal angedeutet, dass die Olga aus dem Kaukasus käme und die Familie verloren hätte, als dort nach dem Zerfall von der Regierung der Krieg losgegangen ist. Mir Mensche lernen einfach nichts aus der Geschichte, traurich ganz traurich.«
»Wie alt ist sie denn gewesen, als die Galberins sie adoptiert haben?«
»Zwölf ist sie gewesen, aber sie hat schon wie eine junge Frau ausgesehen – und bildhübsch, Teufel nochemal. Mit so einem leicht dunklen Ton, wie man ihn dort unten im Kaukasus halt hat. Pechschwarze Augen. Aber sie wissen ja wie das ist, wenn in so einem Dorf wie unserm jemand ein bisschen anders aussieht - da gibt’s immer ein paar, die blöde Bemerkungen machen, gerade unter Kindern. Ha! Aber die Olga hat sich das nicht gefallen lassen. Als erstes hat sie gleich mal des Schultheiße ihren Gerhard verkloppt, als er ihr blöd gekommen ist. Warum sie denn so braun im Gesicht wär’, ob sie sich heute Morgen noch nicht gewaschen hätte. Da hat sie ihn, der ein halbe Kopf größer gewesen ist, am Schlaffitchen gepackt, an die Mauer vom alten Schulhaus gedrückt, bis ihm die Luft weggeblieben ist und ihm ganz ruhig geantwortet: Er wär’ ja so blau im Gesicht, aber da helfe wohl auch waschen nichts mehr.«
Herr Endlich schlägt sich auf den Oberschenkel vor Freude. Seiner Frau scheint das eher ein bisschen unangenehm zu sein, aber sie bleibt still neben ihm sitzen.
»Das war tagelang DAS Thema im Ort. Die ganzen Dorfpharisäer haben sich darüber aufgeregt über das Russe-Mädsche, aber mir hat das vom ersten Augenblick an imponiert. Man darf sich nichts gefallen lassen, gerade von der Schultheiß-Sippe nicht. Natürlich wollten die, dass sich die Olga bei ihrem Bub entschuldigt, aber sie hat sich standhaft geweigert. Der Junge hätt’ sie beleidigt und sie müsst’ sich für nichts entschuldigen. Am Ende sind dann ihre Eltern zu’s Schultheiße und haben sich für ihr Tochter entschuldigt. Es waren halt gutmütige Leute. Ich hätt’ denen eins gepfiffen. Und jetzt verzähle ich Ihnen nochwas.«
Dieses Mädchen scheint sogar den Toten und den verschwundenen Sohn für einen Moment vergessen zu machen.
»Ich bin geschichtlich ja sehr interessiert, wissen Sie, und ich glaube, die Olga stammt von den Amazonen ab.«
Oha.
»Du und deine komische Theorie … .«
»Das ist keine komische Theorie, sondern Tatsache. In dem nämlichen Kaukasuskonflikt sind Georgier und Osseten aneinander geraten. Tausende von Osseten sind damals vor dem Krieg geflohen, darunter wahrscheinlich auch unsere Olga, über Bekannte, weiß der Kuckuck wie sie das geschafft hat. Und jetzt passen Sie auf Frau Kommissarin … «
Okay, ich passe auf.
»Die Osseten sind ein iranischstämmiges Volk und stammen von den Alanen ab. Die Alanen wiederum waren in der Antike ein im nördlichen Kaukasus siedelnder, östlicher Teilstamm der Sarmaten. Und jetzt kommt’s: Archäologen haben in deren Kriegergräbern überpo … ähm überporpotional viel Kriegerinnen gefunden, die Vorbilder für die Amazonen in den griechischen Sagen. Kein Wunder, dass die Olga den Schultheiße Gerhard an die Wand gedrückt hat. Das lag einfach in ihrem Blut. Dafür braucht sich niemand zu entschuldigen.«
Wahrlich nicht.
»Und die beiden, Peter und Olga waren bis zu … ihrem Tod befreundet?«
»Bis zu der Tragödie, ja. Sie hatten sogar schon geplant, nach dem Abitur zusammen auf die Universität zu gehen, sie wollte Medizin studieren und unser Peter Philosophie.«
»Und wie war das dann nach Olgas Tod?«
»Ach, das wollen sie gar nicht wissen. Ich hab’s zuerst gar nicht glauben können. Die Olga würde tot ins Köhme Acker nicht weit von der Fabrik liegen. Aber genauso war’s. Genauso war’s. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine wunderschöne junge Frau aus ihr geworden war. Und jetzt lag sie dreckbeschmiert und kalt im Feld, gerade mal neunzehn.«
»Gab es Anzeichen eines Gewaltverbrechens?«
Herr Endlich starrt vor sich hin. Keine Antwort. Seine Frau beugt sich ein wenig nach vorne:
»Es ist nie in dieser Richtung ermittelt worden. Die Gutachter haben sich auf die Drogen festgelegt, die in hoher Konzentration im Blut festgestellt worden wären. Damit war der Fall abgeschlossen.«
Herr Endlich murmelt ›Alles Lüge‹ und starrt in seinen Kaffeebecher.
»Und ihr Sohn?«
»Für ihn ist eine Welt zusammengebrochen. Die ersten Tage hat er sich in sein Zimmer eingeschlossen. Dann ging es mit dem Verschwinden los. Und wir haben ihn gehen gelassen. Jetzt verstehen Sie vielleicht auch warum. Ein so großer Schmerz … .«
»Mmmmmh.«
Und der nach so langer Zeit noch immer da ist? Wenn die Freundin damals neunzehn gewesen sind, dann ist es jetzt fast zwanzig Jahre her.
»Und ihr Sohn hat ihn bis heute nicht überwunden?«
Frau Endlich hebt und senkt die Schultern.
»Es gibt Dinge im Leben, über die kommt man nie hinweg.«
Das ist leider nicht von der Hand zu weisen.
»Ist er denn, wenn ich das fragen darf, deswegen einmal in psychologischer Behandlung gewesen?«
Herr Endlich schaut vom Kaffeebecher auf und funkelt mich an.
»Sie meinen bei so einen Klapsdoktor? Unser Sohn … !
Aber Frau Endlich legt ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Das wissen wir nicht und wollen uns da auch nicht einmischen. Wir kennen uns in diesen Sachen einfach nicht aus.«
Ein Klopfen an der Eingangstür, davor steht der Taxifahrer.
»Das Taxi ist da, kommen Sie.«
Herr Endlich hievt sich aus dem Sessel, den Kaffeebecher in der Hand haltend.
»Den können sie auf dem Tisch stehen lassen.«
Frau Endlich hat etwas Mühe mit dem Aufstehen. Sie hängt sich bei mir ein. Jetzt klappt es. Die Sessel sind aber auch tief, murmelt sie. Ja, tief. Hinter uns gehen die Aufzugtüren auf und Martenstein kommt heraus. Er schaut kurz überrascht, vermutlich hat er nicht erwartet, dass wir hier oben noch einen kleinen Kaffeeplausch abgehalten haben.
»Sie fahren die beiden Herrschaften nicht wieder nach Hause?«
»Nein, dafür habe ich Ihnen eine schicke Limousine bestellt.«
»S-Klasse, hmmm?«
»Ja, 8 Zylinder.«
Wir bleiben vor der Eingangstür stehen und schauen den beiden Alten nach. Sie wackeln Hand in Hand dem Taxifahrer zum Wagen hinterher.
»Wie lange sie wohl schon verheiratet sein mögen?«
Wenn der Sohn Ende dreißig ist und noch einen älteren Bruder hat:
»Vierzig Jahre bestimmt.«
»Bewundernswert.«
»Also die Chance haben Sie ja auch noch.«
»Naja, läuft gerade nicht so rund.«
»Oh, das tut mir leid.«
Für diese Heuchelei wird mich der Blitz auf dem Scheißhaus treffen.
»Wird schon wieder.«
»Bestimmt.«
Der Taxifahrer schließt die Tür zum Fond. Diesmal sitzt auch Herr Endlich hinten. Er schaut durchs Fenster, das Taxi fährt an, winkt mir zum Abschied zu. Ich winke zurück. Martenstein schabt mit dem Fuß auf dem Eingangsbeton.
»Wenigstens sind wir jetzt einen Tick schlauer.«
»Sind wir das?«
»Zwei eidesstattliche Aussagen, die biologischen Befunde. Mehr geht eigentlich nicht.«
»Die beiden unterschiedlichen Male sind etwas unschön.«
»Drei.«
»Wie?«
»Drei Male. Der Tote hat auch eins: am linken Oberschenkel. Eine Narbe. Mir ist sie aufgefallen, als ich ihm die Hosen wieder nach oben gezogen habe. Etwas seltsam, sie schimmert dunkel.«
Allmählich gibt es für meinen Geschmack zu viele davon.
»Können Sie schon etwas dazu sagen?«
Martenstein schaut in die Luft, als würde er gleich Zigarettenrauch ausstoßen, den er sich gestern abgewöhnt hat.
»Jan.«
»Bitte?«
»Ich finde, wir sollten uns duzen. Ich bin Jan.«
Und ich bin die, der gerade Blut und Hormone in den Kopf steigen. Meine Hände werden heiß, hoffentlich nicht feucht. Cool bleiben, nichts anmerken lassen. Der Husten kommt zu Hilfe, verdammt!
»Manuela.«
Er streckt mir die Hand entgegen. Ich schlage ein. Ob er mich auch gleich … .
»Der Husten ist ganz schön hartnäckig, hmmm?«
Nein, das wäre zu viel.
»Ja, ein richtig kleiner Bastard.«
Martenstein, also ich meine Jan, grinst. Ich versuche auch sowas. Im Holster neben der Dienstpistole vibriert es. Es ist nicht meine Aufregung – sondern das Handy. Ausgerechnet jetzt. Das Display zeigt ›Frank‹.
»Das ist mein Kollege. Darf ich kurz?«
»Natürlich. Dann will ich dich nicht weiter aufhalten.«
Was ich sehr schade finde.
»Ich schaue mir die Narbe am Oberschenkel mal näher an und melde mich dann, okay?«
»Ja, sehr gerne. Ich mich auch.«
»Alles klar, bis dann dann.«
»Bis dann.«
Er dreht sich um. Die Tür schließt sich hinter ihm.
»Ja, Frank?«