DER MANN OHNE ERINNERUNG

Station IVa ist mein Kind. Wie lange habe ich dafür gekämpft, dass sich die Klinik auch für diejenigen öffnet, die keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Neben der äußeren Verwahrlosung, findet auch eine kognitive Verwahrlosung statt, oftmals ausgelöst durch Alkohol oder andere Drogen. Ich will zeigen, dass eine Gesundung im Kopf die Grundlage für eine somatische und soziale Besserung ist. Wir sind eine Privatklinik und keine Sozialstation, hat man mir vorgeworfen. Doch schließlich konnte ich die Klinikleitung von dem Konzept und dem Gewinn weicher Faktoren überzeugen. Daniel steht dem Projekt offen gegenüber, deshalb habe ich ihn in die Stationsleitung geholt. Andere Kollegen sind noch immer skeptisch. Was sollen denn die normalen, zahlenden Patienten denken, wenn ihnen eine verwahrloste Kreatur über den Weg läuft? Aber das wird nicht geschehen, IVa ist von den anderen Stationen physisch abgetrennt. Die normalen Patienten bekommen davon nichts mit. Sie bemerken nicht einmal, dass es diese zusätzliche Station gibt.
»Die Operationswunde bei Frau Hausmann heilt wirklich außerordentlich gut, vorbildliche postoperationelle Pflege. Auch sonst sind die Patienten voll des Lobs über euch. Und die Zeitwerte sind auch sehr gut. Ich bin wirklich froh, das wir dich und dein Pflegeteam haben, Jana.«
Jana huscht ein Lächeln über das Gesicht, dann öffnet sie mit dem Chip die Tür zu IVa.
»Danke«, sagt sie, während die beiden Flügel der Tür aufsurren, »das Lob gebe ich gerne weiter. Die beiden neuen Patienten sind hinten links in den Zimmern 7 und 8. Nelly ist heute und die nächsten Tage schwerpunktmäßig hier. Heute morgen haben wir die beiden erst einmal gewaschen und rasiert. Der amnesiale Patient sah wirklich übel aus, völlig verdreckt, blutverkrustet, du kannst es dir ja vorstellen.«
»Ich frage mich noch immer, wie es dazu kommen konnte. Hast Du mit Emilio darüber sprechen können?«
»Nein, er war schon weg, als ich zum Dienst kam. Daniel hat mit ihm die Übergabe gemacht. Er müsste eigentlich … .«
»Sie scheinen leider nicht im Detail darüber gesprochen zu haben.«
»Ja, es ist wohl ziemlich stressig gewesen, heute früh.«
Das mag sein. Aber gerade das gehört zu unserem Qualitätsversprechen: Auch in stressigen Situationen den Blick auf das Ganze nicht zu verlieren.
»Mmmhmm. Und was denkst du über die Verletzungen?«
»Also … ich kann mir nicht vorstellen, dass sie von einem Unfall stammen, gerade die auf dem Rücken, das sind keine Schürfwunden, sondern … tiefe Streifen im Fleisch.«
Ein weiteres Indiz, das die Hypothese von Daniel stützen würde. Doch es bleibt die Frage: Wer macht so etwas?
»Ein Detail ist mir noch aufgefallen, Maria. Ich glaube, dass der Patient doch gewisse … unbewusste Erinnerungen hat. Wenn wir das Essen bringen, ist das Besteck gemäß Designregeln ja für Rechtshänder angeordnet. Der Patient hat aber das Besteck getauscht. Er weiß also in irgendeiner Form noch, dass er Linkshänder ist.«
»Das kann durchaus sein. Die neuromotorischen Erinnerungen liegen relativ tief im Gehirn. Vielleicht gelingt es uns, an diese intakten Bereiche anzuknüpfen und durch sie angrenzende Bereiche wieder zu aktivieren. Danke für den Hinweis, Jana.«
Auf dem Sofa am Panoramafenster sitzt Herr Latowicz und schaut auf die Stadt hinab. Als er die Schritte in seinem Rücken hört, dreht er sich um und sein vernarbtes Gesicht zieht sich zu einem freudigen Lächeln auf, das die lückenhaften gelblichen Zähne zeigt.
»Tach Frau Doktor!«
»Guten Tag Herr Latowicz. Wie geht es Ihnen?«
Er tippt sich an den Kopf.
»Wie frisch renoviert, des Obberstübbsche.«
»Dann müssen Sie es jetzt nur noch mit schönen Gedanken einrichten.«
»Bin schunn debei.«
Er hebt die Hand und wendet sich wieder dem Fenster zu.
Es ist schön, dass er so zuversichtlich ist, nur wird er es aufgrund seiner Lebensgeschichte schwer haben, die negativen neuronalen Sedimenten alleine zu beseitigen. Wir werden ihn deshalb bei diesem Prozess neurochemisch unterstützen.
»Ist die neue Probe soweit vorbereitet, dass wir sie Herrn Latowicz verabreichen können?«
»Ja, die Probe ist injektionsfertig. Nach Plan werden Stefan und ich sie um 17:00 Uhr Herrn Latowicz direkt in die Blutbahn applizieren.«
»Perfekt.«
Das Draußenlicht fällt wie eine ätherische Skulptur in den Flur, nicht ein einziges Staubteilchen tanzt darin. Auf Janas Gesicht spielend, hebt es ihre hohen Wangenknochen noch weiter empor, Gloriolen aus perfekt geformten Osteoplasten, um die ich sie in Momenten wie diesen beneide. Licht und Gloriolen verschwinden, als sie die Tür zum Zimmer 7 öffnet.
Der amnesiale Patient liegt mit offenen Augen auf der Seite, die Hände unter dem Gesicht. Sein Blick wendet sich uns langsam zu. Lippen und Wangenknochen sind angeschwollen, nichts, was nicht wieder heilen würde. Auch die Kopfverletzungen scheinen beherrschbar zu sein, aber es gibt andere, nichtkörperliche Folgen, die womöglich noch gar nicht absehbar sind. Sorge, Wärme, das ist alles, was wir ihm hier für eine befristete Zeit, neben der medizinischen Behandlung, geben können.
»Wegen der Wunden auf dem Rücken stabilisieren wir ihn immer wieder für eine gewisse Zeit auf der Seite«, sagt Jana leise und bleibt am Fußende des Bettes stehen.
Ich nicke ihr zu und nehme auf dem Stuhl neben dem Bett Platz. Der Patient verfolgt meine Bewegungen mit den Augen, angeschwollene Augen wie nach einem Boxkampf. Sie fassen Zutrauen, das ist wichtig: der Kontakt.
»Guten Tag, ich bin Doktor García Alvarez, die leitende Ärztin. Ich würde mich gerne kurz mit ihnen unterhalten und mir dann ihre Verletzungen ansehen. Möchten Sie sich vielleicht etwas aufsetzen, dann redet es sich bequemer.«
»Ich liege sehr gut auf der Seite, danke.«
Ein klare und bestimmte Aussage, das ist nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Er ist nicht nur ansprechbar, sondern scheint sich auch über seine momentane Situation bewusst zu sein. Andererseits können Worte auch wie leere Kulissen sein, die irgendwie aus dem Mund kommen, bei Bewusstseinstrübungen zum Beispiel, aber er macht nicht diesen Eindruck. Seine Augen … .
»Wenn ich sie anschließend untersuche, müssten Sie sich aber leider anders hinlegen, ist das okay?«
»Okay.«
»Schön. Jetzt würde ich natürlich gerne wissen, wie Sie heißen. Sie hatten bei der Einlieferung gestern Nacht keine Papiere bei sich und ich fände es schön, wenn wir uns gegenseitig mit Namen ansprechen könnten.«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir sagen.«
»Nein, leider nicht. Sie erinnern sich nicht an ihren Namen?
»Nein.«
»Wissen Sie denn, wo Sie sich im Moment befinden?«
»In der Novoklinik, einer Fachklinik für Neurochirurgie, hat man mir gesagt.«
»Und hat man Ihnen auch gesagt, wo diese Klinik liegt?«
»Auf dem Kästrich in Mainz.«
»Sagt Ihnen diese Adresse etwas?«
»Ist das … eine Stadt, Mainz?«
»Ja, eine Stadt an einem großen Fluss. Wenn man über eine der Brücken fährt, kommt man in ein anderes Land. Dort beginnen Hügel und Wälder.«
»Und hier?«
»Ist man umsäumt von Weinbergen und Getreidefeldern.«
»Das hört sich schön an.«
»Das ist es auch.«
Wie Daniel richtig disgnostiziert hat, scheinen die Koordinaten der Erinnerung, Name, Ort, Zeit, vollständig ausgelöscht zu sein. Das muss von den vielen, kleinen Läsionen herrühren – Risse in einem von Erinnerungen ausgedörrten Boden.
»Was ist denn das erste, an das Sie sich erinnern können?«
»An Hände.«
»Hände?«
»Ja, sie greifen nach meinem Körper, sie heben ihn hoch, er schmerzt dort noch mehr, wo sie ihn anfassen. Wasser, Tücher auf meiner Haut, Stimmen, die miteinander reden, alles brennt, das Feuer geht durch mich hindurch, es frisst mein Bewusstsein, dann die Gesichter von Schwester Nelly und Doktor Staudinger, wie durch Milchglas, Doktor Staudinger stellt mir Fragen, ähnliche Frage wie Sie, das muss heute Morgen gewesen sein, das Feuer geht zurück … .«
»Und vor den Händen?«
»Nichts. Ein schwarzes Loch. Ich … ich weiß noch nicht einmal, auf was ich mich beziehe, wenn ich ›Ich‹ sage. Auf diesen schmerzenden Körper, dessen Geschichte ich nicht kenne? Wird sich das ändern, Frau Doktor? Wird das schwarze Loch wieder verschwinden?«
Das weiß im Moment niemand, auch eine leitende Ärztin nicht.
»Amnesie, also fehlendes Erinnerungsvermögen, ist anfangs immer erschreckend. Aber es kann eine Reaktion des Gehirns auf Entzündungen oder ihm zugefügte Verletzungen sein. Es versucht sich zu regenerieren und andere Funktionen werden in diesem Regenerationsprozess ausgeschaltet. Es ist aber ein sehr gutes Zeichen, dass Sie bei klarem Bewusstsein sind. Sie haben einen oder mehrere starke Schläge auf den Kopf bekommen. Glücklicherweise hat das nicht zu einer Schädelfraktur geführt, aber … .«
Ich muss ihm das bildlich darstellen, mit den Händen, eine für den Schädel, die andere für das Gehirn.
»… durch einen Schlag an den Kopf, wird das Gehirn an die Schädelinnenwand gepresst …«
Meine rechte Hand drückt in die linke.
»… und kann so in Mitleidenschaft gezogen werden. Dadurch können Hirnfunktionen beschädigt …«
… ›zerstört‹ sage ich in der jetzigen Situation besser nicht …
»… oder abgeschaltet werden. Bei Ihnen gehen wir davon aus, dass das autobiographische Gedächtnis betroffen ist, das Selbstbild. Es besteht aber die Möglichkeit, dass sich diese Funktion wieder regeneriert …«
… bis zu einem gewissen Grad jedenfals …
»… dafür braucht es jedoch Zeit. Und Geduld.«
»Haben Sie denn eine Ahnung, was mit mir passiert sein könnte?«
»Ich kann von ihren Verletzungen nur darauf schließen. Aber das sind reine Vermutungen. Ich würde mir die Verletzungen jetzt gerne einmal genauer ansehen. Wir werden mit dem Kopf anfangen. Schwester Jana wird Ihnen dann beim Entkleiden helfen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden vorsichtig vorgehen.«
An der Stirn und hinter dem linken Ohr kommen zwei große Platzwunden zum Vorschein. Das Gewebe um die Wunden ist angeschwollen. Der Aufschlag oder die Schläge, in welcher Form auch immer, müssen recht heftig gewesen sein. Und sie waren möglicherweise nicht alles. Von den großen Wunden ziehen sich rote Streifen fast um den ganzen Kopf. Wirklich ein Wunder, dass die Schädelknochen dem Stand gehalten haben. Der Kopf ist schmal und hat hinten eine kleine Ausbuchtung. Neben dem Wundgeruch riechen die Haare nach frischem Shampoo. Jana und Nelly haben ihn von Kopf bis Fuß sauber gemacht, gewaschen und gepflegt. Die Haare sind nicht verfilzt, unter seinem geschwollenen Gesicht ist eine feine, glatte Haut zu erkennen. Er ist nicht die Art von Patient, den wir normalerweise hier auf IVa haben – keine Anzeichen von Verwahrlosung. Den Kopfverband können wir jetzt wieder schließen.
»Sie haben zwei große Platzwunden am Kopf. Um diese Wunden herum ist der Schädel stark angeschwollen. Das ist aber nichts ungewöhnliches, nichts, was nicht wieder heilen würde. Jana, könntest Du ihm jetzt bitte beim Entkleiden helfen?«
Mit feinmotorischen Bewegungen hat er noch etwas Schwierigkeiten, es scheint jedoch keine größeren motorischen Ausfälle zu geben. Jana knöpft das Oberteil des Krankenhauspyjamas auf. Prellungen am ganzen Oberkörper, die Rippen sind zu sehen, das Bauchfell hebt und senkt sich. Wie mager er ist. Ein Wunder, dass keine inneren Organe verletzt worden sind, da muss ich Stefan absolut zustimmen. Es gibt kaum schützende Muskulatur oder Fettgewebe.
»So, und jetzt bitte auf den Bauch legen.«
Mein Gott, über den Rücken laufen mehrere rote Striemen, die Haut und darunter liegendes Gewebe zerstört haben. Das Muskelfleisch ist teilweise sichtbar. Was ist bloß mit ihm geschehen?
»Ihr Körper weist viele Wunden und Prellungen auf. Es ist aber nichts gebrochen. Innere Organe sind nicht verletzt. Sie hatten wirklich großes Glück, auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlt. Die Verletzungen werden für eine Weile noch schmerzhaft sein. Wir geben ihnen ein sanftes Schmerzmittel dagegen. Wie ich im Protokoll sehe, Schwester Jana, hat Doktor Staudinger Felmazin verordnet. Bitte den Film über den Wunden zweimal am Tag erneuern.«
»Diese … Wunden, wie … wie kann das denn passiert sein? Ein Sturz?«
Ich wünschte, es wäre so. Aber die Verletzungen sehen tatsächlich nicht so aus, als wären sie zufällig entstanden. Es muss eine zweite Person gegeben haben, eine Person, die es erregt, Schmerzen zuzufügen. Diese Vermutung kann ich ihm im jetzigen Stadium jedoch nicht zumuten. Heilen ist nicht nur ein körperlicher sondern auch ein emotionaler Prozess und die Ursache dieser ganzen Verletzungen greift möglicherweise tief in das Schamgefühl ein.
»Das ist im Moment schwer zu sagen. Es kann verschiedene Ursachen dafür geben. Aber das ist im Moment auch nicht so wichtig. Das Wichtigste ist, dass die Wunden und auch die anderen Verletzungen wieder verheilen.«
Aus medizinischer Sicht.
»Schwester Jana wird sie jetzt wieder ankleiden.«
»Frau Doktor?«
»Ja?«
»Sie … sind eine schöne Frau.«
»Danke.«
»Aber darauf kommt es nicht an.«
»Sondern?«
»Dass man jemand ist.«
»Ja, das stimmt. Alles andere ist vergänglich. Aber wir alle wissen, dass auch Sie jemand sind. Wir müssen es nur wieder wachrufen.«
»Ich habe aber Angst, dass das nicht geschehen wird.«
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden Ihnen Ihre Erinnerung wieder geben. Ruhen Sie sich einfach aus. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es Schwester Jana oder Schwester Nelly wissen. Ich werde heute Abend noch einmal nach Ihnen schauen.«
Ich streiche ihm über den Arm. Auch kleinste Berührungen helfen beim Heilen, gerade bei nichtkörperlichen Verletzungen. Aber irgendwie … scheint da noch etwas anderes zu sein, eine andere, tieferliegende Versehrtheit, die sich zwischen den Verletzungen und den Worten verbirgt, so tief, dass die zärtlichste Berührung nicht bis dorthin reicht.