LEICHT WIE EINE WINDBRISE

Auf Aneta kann man sich verlassen, man muss nicht viel Worte verlieren, sie weiß sofort, was zu tun ist und sie kommt, wenn es die Situation verlangt, auch sonntags. Keine Problem, hat sie gesagt, in zwei Stunden alles wieder sauber, nix mehr von Party sehen, nur noch schöne Erinnerung. Dafür wird sie eine schöne Zulage bekommen.
Wie schön, dass es rechtzeitig aufgehört hat zu regnen, so kann ich mit dem Fahrrad in die Klinik fahren. Mit dem Bus ist es immer etwas umständlich – es gibt keine direkte Verbindung, man muss am Hauptbahnhof umsteigen, bis zur Uniklinik fahren und dann zum Kästrich zurücklaufen. Das Fahrrad aus dem Fahrradkäfig im Keller zu holen, ist zwar auch etwas lästig, aber dafür ist es dort sicher abgestellt. Das Kellerlicht flackert an und wirft meinen Schatten auf die freie Wand neben dem Käfig, zwischen die Umrisse des ringsum angesammelten Kellerinventars. Der Architekt muss eine Schwäche für Schattenspiele gehabt haben. Manchmal, wenn wir mit dem Auto zurückkommen, legt Matthias seinen Arm um mich und sagt, das links neben mir müsse der Stapel Winterreifen von Arnolds sein. Dann bleiben wir minutenlang vor der Wand stehen, um noch mehr Schatten zu erraten – wir sind schon recht gut darin. Rechts oben flirrt das dunkle Abbild des Frischluftventilators.
Der Fahrradkäfig ist voll mit teuren Fahrrädern. Matthias hat mir damals vorgeschlagen, auch ein solches zu kaufen, aber ich brauche diese ganzen tausend Gänge, Superbremsen und Superlichtanlagen nicht, um in die Stadt oder in die Klinik zu fahren. Ich bin mit dem Hollandrad, dass ich einer Freundin abgekauft habe, völlig zufrieden. Es ist einfach, aber bequem und zuverlässig. Und dass es etwas schwerer ist, macht nichts – über die Rampe lässt es sich problemlos zum Nebenausgang schieben.
Die Luft ist wunderbar frisch, vom Regen reingewaschen, selbst hier unten in den Straßen. Den Regenmantel hätte ich vielleicht gar nicht gebraucht, aber man weiß ja nie, gerade im April. Den Hausschlüssel habe ich, ja, in der Handtasche. Jetzt noch den Gürtel zuziehen und dann los. Das Kopfsteinpflaster bringt Schutzbleche und Gepäckträger zum Klappern – mittlerweile darf man zum Glück gegen die Einbahnstraße fahren, dann muss man nicht mehr erst um den ganzen Nachbarblock herum und ist mit wenigen Tritten schon in der Boppstraße. Links und rechts kommt gerade kein Auto, dann könnte ich, oh Vorsicht, eine ältere Frau auf der Radspur, sie weiß wohl nicht, dass der Teil nicht mehr zum Bürgersteig gehört. Doch das macht nichts, leicht wie eine Windbrise fahre ich um sie herum. Und dann öffnet sich die Straße auf den Bahnhofsvorplatz. Ich mag dessen Weite, die Menschen, die sich mit den Bussen, Straßenbahnen und Taxen kreuz und queren.
Was ist das da hinter der Bushaltestelle? Ein Handgemenge? Nein, die schwarzen Uniformen, das müssen die neuen Sicherheitsagenten sein, von denen unter vorgehaltener Hand erzählt wird. Sie drücken einen Mann an die Wand, die Arme auf den Rücken gedreht. Hier am Bahnhof sollen Kleinkriminalität und Drogenhandel erheblich zugenommen haben und die Polizei ist angewiesen, härter durchzugreifen. Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz versucht einzugreifen, aber die Sicherheitsagenten wehren sie ab. Warum macht sie das? Sie möchte doch bestimmt auch, dass man sich weiterhin gefahrlos hier am Bahnhof entlangbewegen kann.
Der Businessmensch mit dem Rollkoffer schaut mir hinterher. Ja, man sagt, ich sei eine schöne Frau, aber was bedeutet das schon? Jetzt mit Schwung durch die Unterführung und dann die Alicenstraße hinauf. Wie leicht es sich heute fährt – das ist auch kein Wunder, im Moment scheint einfach alles zu gelingen: Die Party ist ein großer Erfolg gewesen, mit Matthias läuft es wunderbar harmonisch und heute Abend werde ich in ein aufgeräumtes Zuhause zurückkehren. Was kann man sich mehr wünschen? Der Typ auf dem Mountainbike macht ein verdutztes Gesicht, wie leicht ich trotz fehlender Gangschaltungan an ihm vorbeisause. Jetzt schaffe ich sogar noch die Ampel bei grün, die sonst immer so lange auf rot steht. Es wäre aber auch nicht schlimm, wenn sie noch umspringen würde, ich bin gut in der Zeit, das ist der Vorteil, wenn man nicht auf die letzte Minute das Haus verlässt. Noch ein ordentlicher Tritt in die Pedale, dann trägt mich der Schwung fast bis zum Fahrradständer.
Das Gebäude unserer Klinik schmiegt sich geschmackvoll zwischen die Wohnanlagen hier auf dem Kästrich, das muss ich immer wieder staunend feststellen: Kein Betonklotz der trist in die Höhe ragt. Es wäre interessant zu wissen, wie das Gebäude entworfen worden wäre, wenn es nicht in der Stadt, sondern auf dem Land, zwischen Wald, Wiesen und Feldern stehen würde – wie etwas Organisches, das aus der Erde herauswächst? So würde ich es jedenfalls machen, maximale Assimilation mit der Umgebung.
Der Sicherheitsbügel des Fahrradständers gleitet sanft ins Schloss. Alles ist hier bestens gepflegt, bis hin zu den Fahrradabstellplätzen. Die Eingangstüren öffnen sich mit einem leisen Surren und wenn man sich umblickt kann man auf die Stadt hinuntersehen, fast noch schöner als zu Hause von der Dachterrasse aus. Frau Dörig am Empfang grüßt freundlich wie immer – willkommen in der Novoclinic. Angeblich hätte hier ein Hotel entstehen sollen, aber dann wurde Mainz Stadt der Wissenschaft und statt des Hotels baute man mit Geldern der Stiftung die Klinik. Eine gute Entscheidung, wir haben mittlerweile den Ruf eine der besten Neurochirurgien im Land zu sein – man merkt das in allen Bereichen. Der Chipleser leuchtet grün und gibt die Tür zur Umkleideebene frei. Jeder Mitarbeiter, selbst das Pflegepersonal, hat einen eigenen Umkleide- und Durchatmungsraum. Wieviel Uhr ist es? Viertel vor zwei. Dann kann ich mich entspannt umziehen und desinfizieren. Oh, und Matthias hat eine Chatnachricht geschrieben: ›Hi Liebes, mir ist beim Spazierengehen eine Idee zu den anomalen Aktivitätsrändern gekommen. Teste die Idee im Labor schnell aus. Bin aber spätestens mit Dir zusammen wieder zu Hause.‹ Ja, zusammen.
Die Klinikkleidung hängt wie jeden Tag frisch gewaschen im Schrank, weiß, duftfrei und funktional, so wie es sein muss. Es kam bisher noch kein einziges Mal vor, dass die Reinigung über Nacht vergessen wurde. So, jetzt noch die Haare zurückbinden, einen Blick in den Spiegel, ja, die Knöpfe sind richtig geknöpft, der Kragen liegt gerade, nichts wäre mir peinlicher als mit einem verdrehten Kragen vor Patienten zu stehen. Nach Dienstplan sind heute Stefan und Myriam für die ärztliche Versorgung zuständig, Bela wird ihnen assistieren und im Pflegeteam hat Jana heute die Leitung – das war eine der besten Entscheidungen, ihr diese Funktion anzuvertrauen. Wie ich mir nur den Dienstplan für mehrere Woche im voraus merken könne, hat sie einmal erstaunt geäußert. Daran ist nichts Erstaunliches. Wenn man den spiralförmigen Aufgang von der Umkleideebene zu den Stationen hinaufgeht, hat man genügend Zeit sich solche Dinge einzuprägen. Eingriffe stehen heute keine an, es sei denn, es hat sich etwas Wesentliches geändert – aber das werde ich gleich von Daniel bei der Übergabe erfahren. Möglicherweise hat sich auf IVa etwas getan, Emilio hatte Nachtdienst … .
Ah, da kommt mir Daniel bereits entgegen – es hat etwas Zeit gebraucht, bis alle im Team verstanden haben, dass Besprechungen eben so wichtig sind wie Behandlungen und man sich so organisiert, dass man vorbereitet und wenige Minuten vor Besprechungsbeginn anwesend ist, doch mittlerweile ist es in die Team-DNA eingeschrieben. 13 Uhr 55. Unter den rechten Arm hat er den Tablet geklemmt, den anderen streckt er mir entgegen. Seine Augen sind ein wenig von Müdigkeit unterlaufen, er arbeitet zu viel, darüber müssen wir in Ruhe im nächsten Monatsgespräch reden.
»Hallo Maria, nochmals vielen Dank, dass Du meinen zweiten Schichtteil übernimmst. Ich werde mich revanchieren. Die Kinder haben sich riesig gefreut, dass ich heute Nachmittag doch mit ihnen zur Minimesse gehen kann.«
Ich erwarte keine Gegenleistung, das gehört zur Zusammenarbeit.
»Gern geschehen. Das ist doch selbstverständlich. Wollen wir …?«
»Ja, gern. Wie war Eure Geburtstagsparty?«
»Sehr schön, gutes Essen, gute Gespräche, alle haben sich glaube ich rundum wohlgefühlt.«
»Das ist doch toll.«
»Ja, das ist es.«
Der Beamer im Besprechungsraum wacht aus dem Ruhemodus auf, sobald man den Raum betritt. Für die Übergabe bräuchten wir das nicht unbedingt, aber vielleicht gibt es Details zu zeigen, die man in der Projektion besser sieht als auf dem Bildschirm. Daniel konnektiert den Tablet mit dem Beamer, im Raum erscheint die Projektion der Patientenchart, der aktuelle Status ist grün hervorgehoben. Er navigiert die Daten mit dem Screenpointer.
»Okay, fangen wir an: Auf der Normalstation gibt es nichts wesentlich Neues. Der Zustand von Frau Hausmann und Herrn Incelek nach der OP ist stabil, keine motorischen oder kognitiven Auffälligkeiten, die Operationswunden verheilen sehr gut, das ist auch ein Verdienst von Jana und ihrem Pflegeteam. Zur postoperativen Schmerzlinderung sind bis einschließlich morgen Gaben von Dolorsan indiziert. Frau Michaelsen bleibt weiter unter Beobachtung, der mittlere Wirbelkanal ist stabil, wenn es so bleibt, ist eine non-operative Therapie weiterhin wünschenswert. Bei den Patienten in der Nachsorge gibt es keine Auffälligkeiten, Therapie und Heilung verlaufen nach Plan. Mit Herrn Ramsauer kann das Entlassungsgespräch geführt werden. Er hat bereits gefragt, ob er nicht noch ein bisschen länger bleiben könne. Es seien alle so nett hier und das Essen so gut.«
»Das ist doch eine schöne Bestätigung unserer Arbeit. Und es können wieder Patienten aus der Warteliste aufrücken.«
»Können wir das kleine Kontingent an normalversicherten Patienten halten?«
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Die nächste Quartalsverhandlung mit der Klinikleitung steht in zwei Wochen an. Die Selbstzahler liefern einfach eine höhere Marge. Man muss dann immer von neuem die wunde Stelle suchen, in die man mit einer ethischen Argumentation zielen kann.«
»Das ist Dir bisher aber ziemlich gut gelungen.«
»Bisher ja. Was gibt es noch?«
»Auf Station IVa, Maria, sind zwei neue Patienten eingeliefert worden. Einen davon hat es ordentlich erwischt. Wir gehen von einem Schädel-Hirn-Trauma aus, Prellungen und Blutergüsse am ganzen Körper.«
»Ist er bei Bewusstsein?«
»Ja, ich habe heute morgen eine erste Befragung mit ihm durchgeführt, GCS 10 würde ich sagen.«
»Was ist mit den Prellungen und Blutergüssen? Gibt es Anzeichen von Organschädigungen?«
»Negativ, der Ultraschallbefund weist auf keine Schädigungen hin. Ich würde sagen, der Junge hat in dieser Beziehung verdammt Glück gehabt.«
»Wir müssen also keinen Kollegen aus der Inneren hinzuziehen?«
»Vorerst nicht. Das Hauptproblem ist das SHT. GCS 10 ist nichts ungewöhnliches, aber … ihm fehlt zurzeit jegliche Erinnerung, retrograd wie auch kongrad. Autogradidität ist noch nicht genau spezifizierbar. Er scheint zumindest Personen und Geschehnisse hier in der Klinik memorieren zu können, er kann sich unsere Namen behalten und weiß auch zum Beispiel, was es zum Frühstück gegeben hat. Aber er scheint sich mit Zusammenhängen noch schwer zu tun.«
Daniel tippt auf den Tablet. In der Projektion erscheint das CT. Stopp, nicht zu schnell. Es gäbe ja die Möglichkeit, das anderweitig herauszufinden, über dritte Personen, Papiere … .
»Einen Moment Daniel, demnach wissen wir nicht, um wen es sich handelt?«
»Nein, leider nicht. Wie die meisten auf IVa, hatte auch er keinerlei Papiere bei sich.«
»Aber er stammt aus einer der Obdachlosengruppen?«
»Wir gehen davon aus … .«
»Und dort hat niemand gekannt?«
»Das müsste Emilio wissen. Er hat die beiden Patienten erstversorgt und in die Klinik gebracht.«
»Ihr habt demnach nicht darüber gesprochen?«
»Schon … aber nicht im Detail.«
Das ist kein Detail, Station IVa ist auf eine spezielle Personengruppe beschränkt. Wir müssen die Identität der Patienten kennen, warum übersieht Daniel manchmal solche wesentlichen Dinge?
»Okay, ich werde mit Emilio heute Nachmittag sprechen. Also das CT … .«
»Auf dem intrakranialen CT sieht man, dass der Schädel als auch die Dura nicht fraktural geschädigt sind. Wir können also von einem geschlossenen SHT ausgehen. Lebensbedrohliche, intrakranielle Blutungen sind nicht zu erkennen. Was man jedoch sieht, sind kleinste Läsionen.«
Er deutet mit dem Pointer auf die Stellen. Es sind viele Stellen.
»Das sonderbare ist, dass sich diese Läsionen wie feinste Haarrisse über den ganzen cerebralen Bereich ziehen. Das ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Schläge oder Stöße punktuell ausfallen. Als habe man ihm eine Haube aufgesetzt und sie leicht und gleichmäßig über seinem Kopf zusammengedrückt.«
Als habe MAN …?
»Du schließt demnach einen Unfall aus?«
»Meiner Meinung nach ist es unwahrscheinlich, dass derartige Verletzungen, am Kopf wie am Körper, ohne Fremdeinwirkung auftreten. Aber … .«
Aber was? Er starrt abwesend auf den Screenpointer, dessen roter Punkt wie im Augenblick eingefroren auf der Projektion steht.
»Aber eben nur unwahrscheinlich.«
Das ist richtig. Und solange ist es besser, sich nicht voreilig auf eine Hypothese festzulegen, auch wenn Indizien sie im Moment nahelegen. Er hat schon recht – Läsionen dieser Art sind ungewöhnlich, aber wir müssen nicht nur höchstwahrscheinlich sondern wahre Schlüsse daraus ziehen. Und dafür haben wir Methoden - warum also diese Sekundenstarre?
»Gut, wir behalten das im Auge. Aufgrund des Befunds können wir zumindest von einem nicht wesentlich erhöhten ICP ausgehen, nehme ich an.«
Der rote Punkt taut wieder auf und fährt über die Großhirnrinde.
»Ja, da … da die Läsionen klein und über den ganzen cerebralen Bereich verteilt sind, wird der Hirndruck mit großer Wahrscheinlichkeit kaum oder gar nicht ansteigen. Eine invasive Messung ist zum jetzigen Zeitpunkt aus meiner Sicht nicht angezeigt.«
»Sind bereits therapeutische Maßnahmen eingeleitet?«
»Stefan und ich haben uns präventiv für eine antikonvulsivische Therapie ausgesprochen, dazu Gaben von Dolorsan gegen die Schmerzen.«
»Sehr gut. Das sind genau die richtigen Maßnahmen, die sich aus der Erstdiagnose ergeben. Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?«
»Nein, das waren die relevanten Informationen. Alle anderen Details sind in der DB abgelegt.«
Daniel schaltet den Screenpointer aus und klappt den Schutzdeckel auf den Tablet. Die Projektion verblasst wie ein Nachbild von etwas.
»Vielen Dank nochmal nochmal fürs Einspringen, Maria.«
»Keine Ursache – dann hab einfach viel Spaß mit den Kindern auf der Minimesse.«
Er übergibt mir Tablet und Pointer. Der Beamer wirft noch eine Andeutung von Licht in den Raum, bevor er endgültig abschaltet. Eine vertrackte Geschichte, wie hat es nur zu diesen heftigen Verletzungen kommen können? Patienten auf IVa haben bisher nie Derartiges aufgewiesen. Meist sind es Langzeitschäden, hervorgerufen durch den ständigen Alkoholkonsum, manchmal auch kleinere Verletzungen, wenn man im Delirium aneinandergeraten ist. Aber das?