DER WANKENDE RIESE

Der neue, amnesiale Patient passt nicht in das Diagnoseschema, das wir auf IVa normalerweise haben. David hat im Patientensheet jedoch keinerlei Bemerkungen hierzu gemacht. Ist ihm denn nichts aufgefallen? Er hat doch ein sehr gutes Auge für Fälle, die nicht in ein standardisiertes Diagnoseschema passen. Wenn man nur die Sheets durchblättert, unterscheidet sich der Patient nicht von den anderen auf IVa, doch wenn man die Schwere der Verletzungen gesehen und mit ihm gesprochen hat und zwischen den dokumentierten Daten liest, ergibt sich ein anderes Bild. Die Frage ist nur, wie sich dieses andere Bild erklären lässt? Emilio muss mir etwas dazu sagen können, er hat letzte Nacht Dienst gehabt und den Patienten hierher transportiert. Ob ihm ein Fehler unterlaufen ist? Ich kann mir das nicht richtig vorstellen, er ist eine unserer besten Pflegekräfte und trifft selten falsche Entscheidungen – wobei in letzter Zeit … .
Niemand soll sich eingeschüchtert fühlen oder gar Angst haben, wenn man hier in das Büro der leitenden Ärztin gerufen wird. Was machten die Kollegen von den anderen Stationen irritierte Gesichter, als ich mich weigerte, an einem dieser großen Chefarztschreibtische zu sitzen. Ein einfacher Schreibtisch mit einem Rollcontainer reicht doch völlig aus, man braucht ja nicht mehr viel Material – fast alles läuft über das Netzwerk und die Zentralrechner. PDA, Pointer, ein paar Notizzettel - das ist alles, was an Arbeitsmaterialien noch notwendig ist. Statt des Schreibtischungetüms habe ich eine gemütliche Besprechungsecke einrichten lassen: Weinrote Sessel, ein niedriger Tisch aus mexikanischem Zedernholz, ein Kaffeeservice mit bunten Oranamenten und eine stets gefüllte Gebäckdose. In einer entspannten Atmosphäre fällt es leichter über Dinge zu reden, die kritisch sind oder die einem auf der Seele liegen. Man soll sehen und spüren, dass es um Zusammenarbeit geht, dass wir ein Team sind, in dem jeder seine Funktion und seine Aufgaben hat, wie Organe in einem Organismus – wir müssen ineinandergreifen, nicht übereinanderstehen. Und zu meiner Funktion gehört es leider auch dazu, manchmal ernste Gespräche führen zu müssen.
Auf dem PDA laufen die Zufallszahlen für die Testreihe mit dem Probemedikament. Auf der Zeile des neuen Patienten erscheint die ›Null‹ – er wäre also der nächste Proband, doch es gibt eine Einschränkung: Um als Proband an dem Programm teilnehmen zu können, muss das Patientensheet vollständig ausgefüllt sein. Das Namensfeld des neuen Patienten ist jedoch noch immer leer, doch das ließe sich gemäß der Sonderverordnung regeln: Anstatt des Namens kann ein Code verwendet werden, den der klinikeigene Namensgenerator vergibt. Der Code in der Generatorleiste blinkt grün: S4M7. Der neue Patient ist nicht der erste, den wir unter einem maschinell generierten Namen führen, aber der erste, an dessen Übereinstimmung mit der Sonderverordnung ich zweifle – und falls mein Zweifel berechtigt ist, dann ist ein Fehler geschehen, der nicht hätte geschehen dürfen.
Vielleich müssen Emilio und ich uns doch Gedanken über seine Funktion und seine Aufgaben machen. In letzter Zeit sind ihm mehrere kleine Fehler unterlaufen, nicht Schlimmes zwar, aber für jemanden, der so genau und gewissenhaft ist, doch ungewöhnlich. Wahrscheinlich macht ihm seine Krankheit mehr zu schaffen, als er sich eingestehen möchte. Es ist ein Drama zu sehen, wie dieser hünenhafte Körper sich quasi gegen sich selbst wendet. Er hat zunehmend Probleme, seine Bewegungen zu kontrollieren – bei Unterschriften, beim Nehmen und Führen von Besteck, Gläsern, Tassen, beim Gehen. Und so, wie zum Beispiel die Hände Mühe haben Gegenstände zu greifen, scheinen ihm manchmal auch seine Gedanken und damit die Fähigkeit zu richtigen Entscheidungen zu entgleiten. An manchen Tagen ist er krebsrot im Gesicht. Das liegt vermutlich am Kortison, das die Kollegen ihm geben. Ich selbst stehe Kortison sehr skeptisch gegenüber, aber ich will den Kollegen nicht reinreden – außerdem gibt es keine richtig guten Alternativen. Was wird geschehen, wenn sich sein Zustand weiter verschlechtert und die Fehler sich häufen? Ich werde, so lange es irgend geht, zu ihm zu stehen, schließlich kommt er aus dem gleichen Hochland, ein Wolkenmensch wie ich.
Es klopft an der Tür. Emilio tritt ein. Sein linkes Bein knickt beim Eintreten weg, die Schulter streift den Türrahmen. Mit einem Ruck hievt er sich wieder ins Gleichgewicht. Seine Schritte schlurfen in den klobigen Sanitäterschuhen auf dem Boden. Er grinst verlegen.
»Hola Maria. Fast aus der Kurve geflogen.«
»Hallo Emilio. Ja, da musst du etwas aufpassen. Bitte setz’ dich.«
Emilio rudert auf die Besprechungsecke zu und lässt sich in einen der Sessel fallen. Der Sessel ächzt unter dem hünenhaften Körper. Emilios Gesicht ist für seine Verhältnisse äußerst bleich. Er scheint, einmal wieder, keinen guten Tag zu haben.
»Entschuldige den kurzfristigen Termin. Wie geht es dir?«
»Alles bestens. Was liegt an?«
Diese Antwort würde er mir geben, selbst wenn er den Kopf unter dem Arm trüge.
»Ich wollte mich mit dir kurz über den neuen Patienten auf IVa unterhalten. Einen Kaffee?«
»Ja, gern. Ganz schön üble Geschichte.«
Die Kaffeepads sind bald aufgebraucht. Ich darf nicht vergessen, neue zu kaufen. Wasser ist noch im Behälter. Milch und Zucker stehen auf dem Besprechungstisch. Emilio nimmt immer viel von beidem, wie es bei uns zuhause üblich ist.
»Verletzungen, wie sie der neue Patient aufweist, sind auf IVa bisher nie vorgekommen. Ich würde gerne wissen, wie es dazu gekommen ist.«
Das heiße Wasser gurgelt durch die Maschine. Am Auslauf kommen die ersten Kaffeetropfen heraus, Dampf entweicht zur Seite. Emilio greift in die Gebäckdose auf dem Tisch und schiebt sich zwei Mandelringe in den Mund. Nervennahrung.
»Das würde ich auch gerne wissen. Wir waren ziemlich erschrocken, als wir ihn da liegen sahen. Es gab ja keinen Notruf oder so etwas.«
»Ihr fandet ihn bei den beiden Bauwagen?«
»Ja, die Obdachlosen dort dachten zuerst, er wäre ein neuer Kumpel. Sie hatten ihm zu trinken gegeben und die Wunden etwas abgewaschen. Ehrlich gesagt fand ich das mit dem Wundenabwaschen keine so gute Idee. Die hygienische Verhältnisse sind ja dort draußen nicht optimal.«
»Keine Sorge, die Wunden sind nicht entzündet. Das ist alles okay, nur … .«
Der Kaffee strömt in die beiden Tassen, genau portioniert, die Maschine faucht kurz, dann kommen auch schon die letzten Tropfen heraus. Der Zweifingergriff an Emilios Tasse fühlt sich beim Tragen wie immer etwas ungewöhnlich an. Von meinen Fingern haben vier darin Platz.
»Hier.«
»Danke.«
Seine Augen sind heute noch kleiner als sonst, die Ränder gerötet. Er sollte wirklich mehr auf sich aufpassen. Das werde ich ihm am Ende noch einmal sagen.
»… nur dass er so schwer verletzt ist, schockiert mich. Haben die Obdachlosen sich etwa …?«
»Nein, von den Obdachlosen würde niemand so etwas tun. Sie sagten, er wäre auf einmal aus dem Dunkel aufgetaucht, fast wie in einem Film. Man sitzt draußen am Feuer und auf einmal tritt ein Mann aus der Dunkelheit in den Feuerschein, wankend, blutüberströmt.«
»Aber ihnen ist nicht eingefallen, dass sie schnellstens einen Krankenwagen rufen sollten?«
»Scheinbar nicht. Sie nehmen unser Programm mittlerweile ja sehr gut an. Vielleicht verlassen sie sich schon zu sehr darauf. Sie wussten ja, dass wir gemäß Plan in wenigen Stunden vorbeikommen würden.«
Zu viel Gutes kann sich auch ins Schlechte wenden.
»Das heißt, es gab in der Gruppe keine Auseinandersetzung, sondern die Verletzungen wurden von jemandem außerhalb zugefügt.«
»Das ist auf jeden Fall so.«
Er greift nach dem Zuckerstreuer. Emilio muss immer nachsüßen. Der Zuckerstreuer verschwindet in seiner Hand. Es sieht aus, als würde Zucker direkt daraus hervorrieseln.
»Was aber auch bedeutet, dass er selbst von außerhalb kommen könnte, also weder der Gruppe noch überhaupt ihrer Schicht angehört. In diesem Fall hätten wir ein Problem.«
Wie kann ich ihm nur die schlürfenden Geräusche beim Kaffeetrinken abgewöhnen? Aber vielleicht hängt das auch mit der motorischen Kontrolle zusammen. Die Tasse torkelt in seiner Hand auf den Tisch zurück. Emilio schaut die Tasse an, dann die Tischkante.
»Und selbst wenn. Wir hätten auch dann helfen müssen, entiendes.«
Da ist sie wieder, die Wand, gegen die ich neuerdings immer wieder anreden muss. Wie lange werde ich das noch dulden können?
»Natürlich, aber nicht innerhalb unseres Projekts.«
»Wie sonst?«
»Durch einen ganz normalen Notruf – und das weißt du genau. Emilio, schau mich an. Wir dürfen die Regeln, denen das Projekt unterliegt, nicht missachten, auch wenn es in guter Absicht geschieht. Das könnte das ganze Projekt gefährden. Entiendes tu!«
»Es ist kein Fehler passiert.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil der Neue vermutlich nicht von außerhalb kommt. Einer der Obdachlosen, Frieder, hat ihn im Laufe des Abends wiedererkannt.«
»Und warum steht das auf keinem der Protokolle und Sheets? Das ist doch eine signifikante Information.«
»Maria, wir …, es war letzte Nacht einfach sehr hektisch. Daniel hatte auch alle Hände voll zu tun. Du weißt ja, wenn die Chefin die eigene Schicht übernimmt, muss alles perfekt sein. Und dann … .«
»Es muss doch nicht alles perfekt sein. Nur wichtige Informationen sollte man nicht vergessen. Aber gut, noch ist ja nichts passiert. Was ist mit diesem Frieder?«
»Er sagte, der neue sähe aus wie Starbuck?«
»Starbuck?«
»Ein Kumpel, der vor längerer Zeit verschwand und jetzt scheinbar wieder aufgetaucht ist. Er war ein Fan von Kampfstern Galactica, einer Serie aus den späten 70ern, deshalb der Name.«
Kampfstern Galactica. Die Aussage von jemandem, der womöglich ein halbes Leben lang alkoholabhängig gewesen ist. Wie sehr kann man sich darauf verlassen?
»Okay, ich werde den Fall morgen mit der Klinikleitung besprechen. Solange behalten wir den Patienten auf IVa. Ist dir letzte Nacht sonst noch etwas aufgefallen?«
»Nein, sonst nichts. Und ehrlich gesagt hat es mir auch gereicht den Neuen so schnell als möglich einzuladen und hierherbringen zu lassen.«
»Kann ich verstehen.«
Er klammert sich an die Sessellehne, als wolle er gleich aufstehen.
»Eine Sache noch Emilio.«
Die Hand rutscht von der Lehne und er fällt wieder in den Sessel zurück.
»Hmmm?«
»Gib etwas auf deine Gesundheit acht. Du siehst übermüdet aus. Schlaf ist wichtig für die Zellregeneration, gerade in deinem Fall.«
»Ich weiß. Aber mehr als vier Stunden Schlaf ist zurzeit nicht drin. Morgen früh habe ich Bibliotheksdienst und die nächsten Prüfungen stehen auch bald wieder an. Ausschlafen kann ich wahrscheinlich erst wieder nach dem Studium.«
Und das in einem reichen Land wie diesem – das werde ich nie verstehen.
»Dann versprich mir wenigstens, dass du es sagst, wenn es dir zu viel wird. Wir stellen dann den Schichtplan um, okay?«
»Okay, versprochen.«
Was so viel heißt wie: Danke für das Angebot.
Er wuchtet sich aus dem Sessel. Die Hände greifen nach dem Besprechungstisch um den überschüssigen Schwung abzufangen. Dann richtet er sich zu seiner ganzen Höhe auf.
»Danke, Maria.«
»Ich danke dir, Emilio.«
Mit ausladenden Schritten geht er um den Sessel herum und hält, sich an dessen Rückenlehne stützend, noch einmal inne.
»Maria?«
»Ja?«
»Warum reden wir eigentlich nicht in unserer ursprünglichen Sprache, wenn wir alleine sind?«
»Weil ich sie nicht mehr sprechen kann, Emilio. Vielleicht wird man in der Fremde sich selbst fremd.«
»Ja, vielleicht.«
Er dreht sich um und verlässt, fast wieder mit der Schulter den Türrahmen streifend, den Raum.
Auf dem PDA blinkt in der Generatorleiste der Namenscode des neuen Patienten: S4M7. Ich lösche den Code und schreibe stattdessen in das Eingabefeld: S-t-a-r-b-u-c-k.