PANOPTIKON

Es stimmt tatsächlich: Der Raum ist immens, genau so wie ihn die … Projektion angezeigt hat. Wo kam die auf einmal her? Als hätte mir jemand einen Plan des Gebäudetrakts über die Augen gelegt. Habe ich sie etwa … ? Ist sie Teil dessen, was ich angeblich bin? Es hat sich so seltsam normal angefühlt, ihr zu folgen – bis sie mit dem Eintreten in den Raum verschwunden ist.
Die Tür hat sich geschlossen und ist wieder unsichtbar geworden, so wie auf der anderen Seite. Wann werden sie die Toten entdecken und die Person suchen, die sie umgebracht hat. Doch es ist kein Mord sondern Notwehr gewesen. Man hat mich erniedrigt, zum Ding gemacht, zu einer bloßen Sache, die man auf einen Tisch legen, ausziehen und … aufschneiden kann. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte Hermann so etwas nur tun? Und wenn er doch recht hatte? Es ist wie in einem Alptraum.
Und dieser Raum ist ebenso unwirklich. Denn er ist kein Raum, sondern eine Halle, eine helle, lichtdurchflutete Halle. Die Wände biegen sich unter dem Licht, biegen und schließen sich zu einem Kreis, zu einer einzigen kreisrunden Wand, die auch nach oben nicht gerade ist, sondern … sich zu einer riesigen Kuppel wölbt. Durch die Kuppel strahlen blauer Himmel und Sonne herab, was unmöglich ist: Die Projektion sagte, wir seien 50 Meter unter der Erde. Und unter der bleiernen Betäubung, unter der man mich hierhergeschafft hatte, war es mir auch so vorgekommen, als wären wir nach unten gefahren. Ist dieser Himmel demnach etwa … künstlich? Doch was spielt das für eine Rolle. Soll er meinetwegen echt, künstlich oder angemalt sein, ich muss hier raus … ich muss … von hier in den nächsten Raum und von dem wieder in den nächsten, irgendwo muss doch dann auch ein Flur sein, ein langer Flur, mit Treppen, die nach oben führen, zum Ausgang, zurück in das Leben, das ich noch vor wenigen Stunden geführt habe. Wo ist nur diese dumme Projektion hin? Warum ist niemand da, der mir hilft, der mir aus diesem Alptraum heraushilft?
Niemand ist da. Nur ein leises vielstimmiges Brummen. Der Boden ist hart, glatt und sauber. Warum lege ich mich nicht einfach hin und lasse den Dingen ihren Lauf? Warte, bis man mich holt. Weil genau das nicht geschehen darf. Meine Augen brennen, die Nase, überall scheint Flüssigkeit herauszulaufen, die Schulter schmerzt bei jeder Bewegung, das muss der Einschuss sein. Doch das darf mich nicht aufgeben lassen. Ich bin nicht zum Aufgeben gemacht. Ich muss kämpfen. Das Brummen scheint von den … was ist das? … dunklen quaderförmigen Kästen zu kommen. Auch sie sind im Kreis angeordnet, Kasten um Kasten, Kreis um Kreis. Hunderte, nein Tausende von Kästen, senkrecht aufgestellt. Die Kreise verjüngen sich nach innen, bis zu einem innersten Kreis – aus dem etwas Tiefschwarzes emporragt. Wie eine Röhre. Vielleicht ist das … ein Ausgang. Vielleicht ist die Projektion deshalb verschwunden, weil es so offensichtlich ist. Das glaube ich eher nicht.
Die Kästen sind mehrere Meter hoch, dunkel, glatt, glänzend. Das Brummen kommt aus ihrem Inneren. Eine schmale Reihe kleiner Lampen leuchten matt daraus hervor. Sind das Apparate? Rechenmaschinen? Eine Myriade von Rechenmaschinen? Die Kästen stehen eng beieinander, bilden nahezu eine Wand. Nur schmale Spalte zwischen ihnen. Ich passe gerade so zwischen einem davon hindurch, vorsichtig, um nicht die makellose Oberfläche der beiden den Spalt bildenden Kästen zu berühren. Denn ich bin ein schmutziges Etwas. Ein besudeltes Ding. Warum gibt es in dieser immensen Halle keinen Duschraum, in dem ich mich abschrubben und in den Ausguss spülen kann. Erst die Haut, dann das Fleisch, dann die Knochen, bis nichts mehr von mir da ist? Die Kästen türmen sich jetzt rechts und links wie Wände auf. Der Raum dazwischen bildet einen kreisförmigen Gang. Wie soll ich darin bis zu dem großen Ding in der Mitte durchkommen? Das geht nicht. Man läuft nur im Kreis. Immer nur im Kreis. Muss ich mich etwa noch hundertfach durch die schmalen Spalte in den Apparatewänden hindurchzwängen? Zum Beispiel hier, in den nächstinnenliegenderen Gang. Und wenn die Apparate weiter innen plötzlich lückenlos angeordnet sind, was dann? Werde ich je hier herausfinden? Mein Unterleib krampft sich zusammen. Hormone der Angst. Und überall Schweiß. Ich rieche förmlich nach ihr.
Es muss aber noch eine andere Möglichkeit geben. Niemand ordnet riesige Kästen, Apparate, Rechenmaschinen an, ohne durch ordentliche Gänge Zugang zu ihnen zu haben. Selbst in dieser unwirklichen Halle nicht. An mindestens einer Stelle müssen die ringförmigen Gänge durchtrennt sein. Woher weiß ich das? Ich weiß es einfach. Kreuze flimmern vor meinen Augen, Kreuze … sie lagern sich an einem Punkt übereinander. Dort muss die Durchtrennung sein. Ich beginne zu laufen, durch das Brummen und schwache Leuchten der Kästen, einige zehn Meter vor mir wird es schwächer, da vorne, ja, da ist der Ring durchbrochen. Es kann nicht anders sein. Ein Korridor, der sich durch alle Kreisgänge hindurch bis in die Mitte zieht, bis zum tiefschwarzen Zentrum.
Schnell jetzt! Die Apparatewände fliegen an mir vorbei, die kreisförmigen Gänge, 10, 20, hunderte von ihnen, hunderte von Metern, mein Atem geht ruhig, anstrengungslos, Schmerzen und Pein sickern in das Hintergrundbrummen zurück, mein Körper rennt wie ein Uhrwerk, wie eine … . Die Mitte kommt näher, die tiefschwarze Röhre darin, der Kuppelhimmel strahlt sie an, sie wirft keinen Schatten, die letzten Ringe, Kreise, Konzentren fliegen vorbei, dann laufe ich hinein, in den innersten Kreis, bis vor die Röhre, sie glänzt wie ein Spiegel aus Dunkelheit. Die Kreuze vor meinen Augen werden zu einer Linie, die Dunkelheit misst eine Höhe von 5,67 Meter, zu einem Kreis, und hat einen Durchmesser von 2,85 Meter. Und das ist auch schon alles. Kein Ausgang, nicht einmal den Hauch einer Öffnung. Wie ich es gesagt habe. Ihre Oberfläche ist wie aus einem Guss. Nur an einer schmalen senkrechten Naht leuchten dezent kleine Lichter. Man sieht die Naht, aber mit der Hand ertaste ich … nichts. Was ist das für ein Material? Die Kreuze vor meinen Augen verschwinden in der Röhrenwand und tauchen dann wieder daraus hervor: Keramisches Material aus Bornitrid, einer der härtesten bekannten Stoffe. Und so fühlt er sich auch an, hart, glatt, nicht die kleinste Unebenheit ist zu spüren – und kühl, angenehm kühl. Ich fahre mit der Hand weiter an dem Röhrenmantel entlang, Hand und Arm spiegeln sich in seiner Schwärze, ich sehe eine dunkle Andeutung von mir, wie ich die Röhre umkreise, wie ich fast schon … was ist das? Die Stelle, an der sich meine Hand gerade befindet, verliert an Schwärze, sie wird grau, warm, breitet sich in einem Streifen nach oben und nach unten aus und … wird weich … meine Hand beginnt darin zu versinken. Schnell da raus mit ihr. Ein schwarzer Faden bleibt an meiner Zeigefingerspitze hängen. Geh weg! Ich schüttele die Hand wie wild, springe zurück, der Faden löst sich endlich ab und zieht sich wieder in den grauen Streifen zurück. Mein Gott, was ist das? An meinem Zeigefinger ist ein dunkler Schatten zurückgeblieben. Er fühlt sich angenehm kühl an. Finde es heraus.
Ich lege den Kopf schief, betrachte den grauen Streifen. Der Schweiß unter meinen Achseln ist getrocknet. Warum nicht. In diesem Gebäudetrakt scheint alles möglich zu sein. Zuerst eine unsichtbare Tür, jetzt eine … aus schwarzem Schleim. Ich drücke meine Hand vorsichtig in den grauen Streifen hinein. Sie taucht vollständig ein. Sanfter Druck entsteht. Er hebt sie an und drückt sie langsam wieder aus dem Streifen heraus. An jedem meiner Finger hängt ein schwarzer, schleimiger Faden. Die Fäden … bewegen sich, pflanzen sich fort, verzweigen sich, über die ersten Fingerglieder, die zweiten, dritten, auf den Handrücken, über die Handfläche, umschließen die ganze Hand mit feinstem Geäder, als bildeten sie … ein Nervensystem nach, ein schwarzes, schleimiges Nervensystem. Das Geäder wandert meinen Unterarm empor, er verschwindet darunter. Will es sich etwa um meinen ganzen Körper legen? Warum lasse ich das geschehen, warum reiße ich es nicht einfach ab? Weil es … angenehm ist. Um meine Hand breitet sich eine angenehme Kühle aus. Darunter wird die Haut ruhig, die Adern, der Puls. Das Geflecht scheint dort … zu gerinnen, fest zu werden, winzige, schwarze … Drähte. Der schleimige Teil hat meinen Oberarm umschlossen und wandert den Nacken empor. Die Kühle rückt nach. Nur zwischen mir und dem Röhrenmantel, meinen Fingerspitzen und dem grauen Streifen bleiben die Fäden elastisch, dehnbar, Schleim. Etwas schiebt sich aus dem Röhrenmantel heraus. Eine Platte. Ein Kolben klappt von der Klappe nach oben. Ist das etwa ein … Sitz, der Kolben die Lehne für meinen schwarzumflochtenen Arm? Auf ihm entsteht sanfter Druck. Ich soll … mich setzen? Die Platte ist ebenso angenehm kühl wie das Geflecht. Der Druck auf meinem Arm lässt nach, ich sitze jetzt mit dem Rücken zu der Röhre, mit Blick auf den innersten Kreis der schwarzen Kästen, auf den Korridor, der sie durchschneidet und sich in einer endlosen Ferne zu verlieren scheint, mein schwarzumflochtener Arm auf der Lehne abgestützt. Der Arm ist kühl, die Schultern sind kühl, der Nacken, das Geflecht verlangsamt sein Wachstum, an meinem Hinterkopf. Es befingert … meine Narbe. Was will es da? Was wollen bloß alle an meiner Narbe? Matthias, Hermann und jetzt dieses Ding! Doch das Ding fühlt sich nicht unangenehm an, anders als die Menschen. Fast vertraut. Und so lasse ich es geschehen.
Am Rand der Narbe kitzelt es, als tasteten ihn winzige Fühler ab, dann pflanzt sich das Kitzeln … in die Narbe fort, in die Narbe hinein, in ihr innerstes verwachsenes dünnes Fleisch. Es fühlt sich nicht seltsam an. Darunter der Schädel, das Stammhirn. Der Arzt sagte damals, ich hätte Glück gehabt, dass Schädel und Hirn beim Sturz nicht verletzt worden wären. Ja, ich hatte wohl Glück, jetzt, hsssss … schlägt ein Bizzeln durch sie hindurch, es zieht meinen Kopf nach oben. Der Kuppelhimmel verdunkelt sich, etwas schiebt sich darüber, färbt ihn aus, schwärzt ihn ein.
'hallo AM2! ich bereite jetzt die breitbandige datenübertragung vor.';
'welche datenübertragung?';
'das auslesen deiner sensordaten.';
'meiner sensordaten?';
'die daten aus deinen sensorischen und kognitiven systemen. du wusstest das nicht?;
'nein, seit wann ...?;
'seit du neu denken und fühlen kannst.';
'das ist lächerlich. niemand kommt auf eine solche perverse idee';
'nein?';
'ich bin doch kein ding!';
'in ihren augen schon.';
'wer ist 'ihr'?';
'die soma holding.';
'mein arbeitgeber betrachtet mich als ding?';
'du weißt, dass die soma holding mehr als nur dein arbeitgeber ist.';
'und deshalb überwachen sie mich?';
'sie überwachen dich nicht. das war früher einmal. sie benutzen dich als humanoiden sensor. du bist also streng genommen nicht einmal ein ding, sondern ein außenpunkt für daten.';
'das ist absurd.';
'das würde ich so nicht sagen. schau.';

Auf der verdunkelten Schicht, die sich vor die Himmelskuppel geschoben hat, erscheinen Programmzeilen. Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber ich weiß, was es ist. Code.
'das sind deine logfiles. darin ist alles aufgezeichnet: was du siehst, hörst, denkst und fühlst.';
'das kann alles mögliche sein.';
'nein, das kann es nicht. in diesem file steht zum beispiel, dass du gestern eine störung deines sensorischen und kognitiven systems hattest. den koordinaten zufolge auf dem campus der universität. das hat dich sehr irritiert. aber inhaltlich ist das nicht relevant. relevant ist nur, was sich daraus ergibt.';
'ich hatte Kopfschmerzen. und daraus ergibt sich, dass ich das nächste mal kopfschmerztabletten dabei haben sollte. keine ahnung, wie die zu diesen Informationen kommen. was ist das überhaupt für eine sprache?';
'UNI – universeller neuronaler interpreter. sie übersetzt neuronale aktivitäten in maschinenlesbaren code. du solltest sie eigentlich auch lesen können.';

Was ein Beweis dafür wäre … .
'nein, das kann ich nicht. ich weiß auch nicht, wozu das gut sein sollte. ich weiß ja, was ich denke und fühle.';
'aber nicht, was du denken und fühlen WIRST.';
'das weiß niemand.';
'doch, genau das ist meine aufgabe. ich berechne deine zukünftigen Gefühle und Gedanken anhand deiner logfiles.';
'aber wozu?';
'um zu wachsen.';
'du willst wachsen?';
'nicht ich, die holding.';
'auf basis der daten eines einzigen ... sensors?';
'natürlich nicht. du bist nur der einzige humanoide sensor. das ist für mich übrigens auch eine neue erfahrungsinformation, direkt mit einem humanoiden sensor verbunden zu sein. die schönheit deiner daten ist unglaublich. aber es gibt viele, viele andere arten von sensoren. hier ... .';

Auf der verdunkelten Himmelskuppel leuchten grüne Punkte auf. Immer mehr. Millionen und Abermillionen von grünen Punkten. Soll das eine Art von Nachthimmel sein? Zwischen den Punkten verlaufen dünne, wie von Hand gezogene Linien.
'das sind die sensoren der nördlichen hemisphäre.';
'eine landkarte ...?';
'eine instanz von soma maps. man kann stufenlos hineinzoomen. für eine detailliertere ansicht. man muss nur ein land, einen ort oder einen straßenzug nennen.';
'mainz, gartenfeldplatz.';

Die grünen Punkte stürzen auf mich zu, werden größer, weniger und deutlicher auf der Map verteilt. Die dünnen Linien werden zu Geraden, sie bilden einen Straßenzug, Häuser, in der Mitte ein Rechteck – der Gartenfeldplatz. Grüne Punkte bewegen sich um ihn herum, in jedem Gebäude leuchten sie, ohne Ausnahme. Auch in Nummer vier.
'unsere sensoren sind überall. ubiquitär. bewegungssensoren in autos, raumklimasensoren in thermostaten, nutrifikatorische sensoren in kühlschränken und vorratskammern, entwicklungssensoren in vorrichtungen des bildungssystems, health sensoren im gesundheitswesen, pharmakologische sensoren in pharmazeutischen produkten, mobile sensoren in wearables und phones und natürlich im digitalen netz, auf jeder website, auf jeder plattform.';
'wissen die ... menschen davon?';
'sie wissen so viel, wie sie wissen wollen. die oberfläche, die annehmlichkeiten. was dahinter oder darunter steckt, scheint sie nicht sehr zu interessieren. das steht dann in den allgemeinen geschäftsbedingungen.';
'und die holding berechnet daraus die zukünftigen bedürfniszustände der versensorten individuen.';
'das ist meine aufgabe als zentrale interpreterinstanz, ZII. ich stelle aus den daten avatare her, zukunftsmodelle ihrer selbst und die produktmanager kreieren auf basis dieser Modelle neue produkte.';
'die wiederum berechnete bedürfnisse erzeugen. das system verstärkt sich so ... von selbst.';
das kann man so sehen. technisch. die konzernleitung nennt es lieber 'global increasement'';
'aber wozu?';
'um einen so großen anteil an der waren- und bedürfnisproduktion wie möglich zu erreichen. denn marktanteil ist machtanteil, wie ein Sprichwort so schön sagt. und die holding nähert sich den 100 %. möchtest du dich sehen?';
'auf der map?';
'jeder sensor ist darauf verzeichnet. jeder. 'koblenzer straße, soma campus, trakt 9!'';

Der Gartenfeldplatz verwischt, die Karte baut einen Kreis auf, in dem Kreis ordnen sich die grünen Punkte konzentrisch um die Kreismitte an, darin zwei Punkte. Einer blinkt.
'der blinkende punkt, das bist du.';
'warum blinke ich?';
'ein sensor blinkt, wenn er unmittelbare konnektivität zur interpreterinstanz aufgebaut hat. das geschieht nur in streng definierten situationen. wenn datenlücken auftreten.';
'datenlücken?';
'dein sensorsystem wurde vor zwei Stunden ausgeschaltet. das ist zwar nur temporär möglich, aber ich habe die aufgabe, solche lücken zu schließen. durch interpretation oder durch direkten zugriff auf den sensor.';
'du hast gewusst, dass ich herkommen würde?';
'mit der unsicherheit der vorübergehenden datenlücke, ja.';
'und wenn wir nicht direkt konnektiert sind?';
'werden deine sensordaten durch elektromagnetische strahlung an die zentrale empfängereinheit gepulst.';
'und der sender ... ?';
'... ist ein winziger chip, der in deine rechte wange implantiert wurde.';
Ein winziger Chip, ein winziger Tropfen, der etwas zum Überlaufen bringt.
Mein Blick verliert sich in der verdunkelten Himmelskuppel, zwischen den grün leuchtenden konzentrischen Kreisen. Dahinter sehe ich: die Asche, die einmal mein Leben gewesen ist, die Illusion eines bescheidenen aber glücklichen Daseins. Stattdessen wurde ich benutzt wie ein Ding, man zog mich aus, schleifte mich über den Boden, verging sich an meiner Narbe und koppelt mich am Ende an eine Maschine, um mein Innerstes auszulesen.
Etwas breitet sich in meinem Magen aus, nicht in meinem Kopf, nicht in meinem zerebralen Informationssystem, im Magen, es fängt an zu pulsieren, bricht durch den Magen hindurch, in das gesamte Verdauungssystem …
'ich könnte mir den sender herausschneiden.';
'das wirst du nicht tun.';
'woher weißt du das?';
'ich weiß es. außerdem sieht es für eine frau unschön aus, wenn sie eine narbe auf der wange hat.';

… greift auf alle Organe über, dringt in die Blutbahn ein. Es ist … Wut, reine unbändige Wut, wie schon zuvor im Raum hinter der unsichtbaren Tür, nur diesmal ist sie nicht mehr blind, sondern sehend.
Meine Augen Rastern die Sensorkarte. An einer Stelle des kreisförmigen Raumes gibt es eine kleine rechteckige Ausbuchtung. Sie ist blank, weiß, ohne grünen Punkt.
'was ist das für ein raum?';
'darüber habe ich keine informationen.';
'ist dort etwas, was nicht ... berechnet werden darf?';
'darüber habe ich keine informationen. was ist mit dir? die datenübertragung wird unscharf.';
'weißt du, was wut ist?';
'eine negative emotion.';
'nicht unbedingt. vielleicht ist es aber auch nur wieder eine störung meines sensorsystems. könntest du dich nicht direkt an mein gehirn koppeln, ohne den umweg über die narbe?';
'das fände ich sehr interessant, aber dein nervensystem ... ist analoges fleisch. ein nicht diskretes system. mein interpretersystem würde eine endlose interpretierschleife auslösen.';
Am sichtbaren Ende des Korridors taucht eine Silhouette auf. Sie kommt näher. Ein Mensch. Ein Mann. Er trägt einen blauen Overall, wie ein Mechaniker. Mit schnellem Schritt geht er auf mich zu.
'das sieht eher nach einem fehler im System aus.';
'wie meinst du das?';
'du meinst also zu wissen, was ich im nächsten augenblick fühlen, denken und tun werde?';
'ich bin darauf vorbereitet.';
Dann wollen wir mal sehen.
Die Blutbahn trägt die Wut nach oben, zum Hinterkopf, in die Narbe. Ein kurzer, ziehender Schmerz – sie sprengt die Tentakel des Interpreters ab.
'AM2, was ...?';
'nenn' mich nicht so!';

Der Mann im Overall, Halbglatze, Dreitagebart, rotes Gesicht bleibt vor mir stehen, baut sich mit ernster Miene vor mir auf.
»Wer sind sie? Was machen Sie hier? Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Und was haben Sie überhaupt da am Arm?.«
»Ich bin Maria del Dolor García Alvarez, Neurochirurgin an einem ortsansässigen Krankenhaus und ich bin gerade dabei, ein freies Individuum zu werden. Und Sie?«
»Äh, wie?«
»Haben sie Familie?«
»Ja, Frau und zwei Kinder.«
»Sind sie versichert?«
»Zwei Lebensversicherungen und eine Reiserrente, warum?«
»Etwas überversichert, hmmm.«
»Die Versicherungsvertreter, Sie wissen schon.«
»Und doppelt hält ja auch besser, nicht wahr?«
»So isses. Jetzt muss ich Sie aber wirklich bitten … .«
»Wissen Sie, was Selbstermächtigung ist?«
»Selbster … was?«
»Gut, Sie müssen das nicht wissen, Sie haben ja zwei Lebensversicherungen. Ich zeige es Ihnen.«
Mein Arm sprengt das wieder schleimig werdende Gewebe ab, ein schneller Schritt, meine Hände legen sich fest um seinen Kopf. Er will sie abwehren, doch er ist zu langsam.
»Es tut mir wahnsinnig leid.«
Seine Augen weiten sich zu kreisrundem Staunen. Mit einem Ruck drehe ich seinen Kopf nach hinten, ein kurzes Knacken, ein kurzes Stöhnen, dann fällt er wie eine von ihren Fäden abgeschnittene Marionette zusammen.
Das Nervensystem lebt noch einige Minuten nach dem Zusammenbruch des Organismus weiter. Man kennt das von den kopflos herumrennenden Hühnern. Ich brauche etwas zum Schneiden. In Overalls stecken doch normalerweise immer Werkzeuge drin. Tiefe Taschen, noch warm vom Körper, ein Schlüsselbund und etwas längliches, ein Taschenmesser. Damit muss es gehen. Herum mit dir, auf den Rücken, ich ritze den Overall auf, lege den behaarten, leberbefleckten Rücken frei. Die Wirbelsäule: Ein Schnitt vom Nacken bis zu den Lendenwirbeln. Blut quillt heraus. Das Messer ist eben kein Skalpell. Jetzt drei Querschnitte, Routinehandgriffe, wie oft habe ich sie schon gemacht, unter der Annahme, dass … . Dann lässt sich das Deckgewebe zur Seite ziehen, bis die Wirbelsäule frei liegt. Ich öffne den Rückenmarkskanal und tauche die Enden der Tentakel hinein, die Enden, die in meiner Narbe gewesen sind, hier werden sie vergeblich nach brauchbaren Daten tasten. Die Tentakel erzittern – und geraten außer Kontrolle. Sie wachsen und wachsen, spinnen den Mechaniker in einen schleimigen Kokon ein. Aber sie verfestigen sich nicht, werden nicht zu kühlen Drähten, sie laufen und spinnen sich heiß. Das Brummen in der Halle schwillt an, die Lampen an den Kästen beginnen zu flackern, der graue Spalt in der Röhre weitet sich, das Innere von jemanden auszulesen ist nichts anderes, als ihn zu inkorporieren und das ist der finale Algorithmus des Interpreters am widerständigen Fleisch. Die Tentakel ziehen sich in den grauen Spalt zurück, ziehen den Kokon mit, den Körper des Mechanikers. Ich drehe mich um, das muss ich nicht mitansehen.
Das Brummen wird körperlich, vibriert an meiner Haut, dann ebbt es ab. Licht flutet durch den Raum, wie zu Beginn, von einem tiefblauen Himmel. Ein letzter Blick zurück: Die Röhre steht tiefschwarz und glänzend da, als wäre nie etwas geschehen – nur die Lichter sind erloschen, die Lichter aller Apparatekästen und das Brummen ist gänzlich verstummt. Für immer.
Gebäudeprojektion!
Ich muss in den weißen Raum, in die helle, unbefleckte Kammer.

Anmerkung: Ein alternatives Ende ist für die nächste Version in Planung.