SCHRÖDINGERS KATZE

Leschinski hat den Wagen angehalten und ist scheinbar ausgestiegen. Ob wir endlich am Ziel sind, in Nordelsheim, dem Dorf, aus dem Peter vielleicht ursprünglich herkommt? Die letzten Minuten Fahrt haben mich so richtig durchgerüttelt, kennen die hier auf dem Land noch keinen Asphaltbelag? Ein Kofferraum ist auch ohne das Gerüttel nicht die bequemste Reisemöglichkeit: dunkel, die Luft wird schnell stickig und ein Hauch Abgase weht immer wieder herein. Vielleicht hatte Eddie doch recht und ich hätte mich mit dem Rücken zur Kofferraumöffnung legen sollen. Was er auch hätte erwähnen können, ist, dass die Embryonalstellung, egal in welcher Liegerichtung, nach der Hälfte der Fahrt anfängt unbequem zu werden. Arm und Fuß sind eingeschlafen, ich merke von ihnen, wenn überhaupt, nur noch ein leichtes Bizzeln. Vielleicht hätte ich doch auf ein großräumigeres Modell bestehen sollen, auch wenn es ökologisch gesehen unvernünftig ist. Mein verletzter Arm brennt und pulsiert unter dem Verband, aber nicht mehr so schlimm wie zu Beginn – Leschinski hat als Verarzter sein bestes gegeben, das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Ob ich ihm auch sonst vertrauen kann und er mich nicht nach ein paar Schlenkern auf die nächstbeste Polizeiwache bringt?
Der Wagen setzt sich wieder langsam in Bewegung, sackt durch eine kleine Untiefe, fährt noch ein paar Meter und hält dann wieder an. So muss es unter der Erde sein: Die Augen sind in der vollkommenen Dunkelheit nutzlos, aber dafür schärfen sich die anderen Sinne: Man hört, was man bisher nicht gehört hat, riecht, was man bisher nicht gerochen hat – und man weiß, dass man nur noch für wenige Minuten Atemluft hat. Der Motor wird abgestellt, ein kurzes, dumpfes Geräusch vor mir, hinter dem Wagen, Metall quietscht aufeinander, eine Wagentür wird geöffnet, Stimmen schleichen um den Wagen herum, das Kofferraumschloss knackt, der Deckel hebt sich: Licht stürzt wie eine Flut auf mich ein, ich muss die Augen zusammenkneifen, so viel Licht wie nie, Luft, unglaublich frische Luft schwappt zu mir in den Kofferraum, sie nimmt mir fast den Atem, trägt Düfte und Gerüche heran, als wäre sie keine Luft, sondern die Essenz einer ganzen Landschaft. Als das Gleißen nachlässt, kommen meine Augen wieder aus den Schlitzen hervor - ich sehe zwei Gesichter über mir, über dem geöffneten Kofferraum: Eins gehört Leschinski, es grinst etwas blöde, das andere, ein gebräuntes, unrasiertes Männergesicht schaut mich neugierig an, ob das schon unser Gastgeber ist? Das blöde grinsende Leschinskigesicht fragt: »Na, gute Fahrt gehabt?«
Frage und Gesicht passen hervorragend zusammen. Offensichtlicher kann die Antwort ja nicht vor einem liegen.
»Nein überhaupt nicht. Kann mir einer mal hier raus helfen? Mir ist fast alles eingeschlafen.«
Leschinski streckt mir die Hand entgegen. Ich halte ihm meinen verletzten Arm hin und versuche mich mit dem anderen, mit dem heilen Arm, auf dem ich die ganze Zeit gelegen habe, aufzustützen. Doch es funktioniert nicht so gut, weil der Arm tatsächlich komplett eingeschlafen ist, er knickt oder biegt sich weg oder löst sich einfach auf und ich drohe wieder zurückzufallen, aber Leschinski hat mich fest im Griff. Gemeinsam ziehen wir mich irgendwie auf die Knie, zumindest auf das des rechten Beins, denn das linke Bein ist auch komplett taub.
»Vorsicht das Kofferraumschloss.«
Ich ziehe den Kopf ein und hieve mein waches Bein über die Kofferraumkante, das andere schlurft irgendwie hinterher.
»Kannst Du alleine stehen?«
»Ich glaube schon.«
Leschinski lässt mich los, ich kippe zur Seite, der Boden kommt näher, ein Boden aus alten Pflastersteinen, darauf schlägt man derb auf, Leschinski greift nach mir, hält mich fest, in letzter Sekunde.
»Hey, hey, schön standhaft bleiben.«
Das ist einfacher gesagt als getan. Ich schüttele Arm und Bein, versuche sie wieder zum Leben zu erwecken, der Taubheit folgt ein Bizzeln, eine Andeutung von Form, immerhin. Unser potentieller Gastgeber schaut mich an wie ein exotisches Insekt. Vielleicht bin ich das auch. Ob er bereits bemerkt hat, dass etwas mit mir nicht stimmt, außer den eingeschlafenen Gliedmaßen? Wenn nach einer Person wegen Mehrfachmordes gefahndet wird, dann ist sie in der Regel auch nicht ganz … in Ordnung, zumindest moralisch gesehen. Hat er öfters mit solchen zweifelhaften Individuen zu tun? Ist es ein einträgliches Nebengeschäft, neben dem Café? Wir betrachten uns auf Augenhöhe. Er ist kaum größer als ich. Aber sonst haben wir körperlich nicht viel gemeinsam. Er ist von Kopf bis Fuß eine gedrungene Form, nicht dick, eher wie ein … wie ein Leib gewordenes Quant, wie wenn ein atomarer Energieimpuls einen Körper annehmen würde. Er trägt ein olivgrünes Hemd, eine braune Weste darüber und dunkelgraue Faltenhosen. Wenn er die Augen zukneifen und Zigarettenrauch inhalieren würde, hätte er etwas von einem bulligen Privatdetektiv. Vielleicht ist das Café auch nur ein Vorwand für eine Detektei der außergewöhnlichen Fälle.
Ein Lächeln zieht sich flüchtig durch seine Bartstoppeln, eine kurze Entladung von Freundlichkeit. Er hält mir seine Hand entgegen:
»Hallo, willkommen in Schrödinger’s Cat. Ich bin Erwin, Erwin Schrödinger.«
Der heißt so wie der Physiker? Wie geht das denn?
»Saxild … Sabine … und … das ist wirklich Ihr richtiger Name, Erwin Schrödinger?«.«
»Sie kennen ihn?«
»Aus Lehrbüchern. Der Mann mit der Katze in der Box.«
Die, unter bestimmten Beobachtungsbedingungen, zugleich tot und lebendig sein kann – was auch meinen Zustand im Moment gut beschreibt.
»Ja, das ist er. Kein Witz. Meine Mutter war Physiklehrerin, für sie kam gar kein anderer Jungenname in Betracht.«
Was Eltern mit ihren Kinder alles anzustellen imstande sind. Schrödinger hat einen warmen, kräftigen Händedruck. Die Fingergelenke sind behaart, unter den Hemdärmeln kriechen auch dichte, dunkle Haare hervor, wahrscheinlich wächst ihm ein dichter Pelz über Rücken und Brust. Er freue sich, dass er uns als Gäste auf seinem Anwesen begrüßen dürfe. Das verstehe ich zwar nicht, wie man sich über solche Gäste wie uns freuen kann, aber er scheint es wirklich … ernst zu meinen.
Was denn mit meinem Arm passiert sei?
»Eine Begegnung mit einem Pitbull.«
»Ein Pitbull, puuh, das sind richtige Biester. Nur die Halter sind noch schlimmer. Meine Frau kann sich die Wunde einmal ansehen, wenn Sie wollen. Sie versteht ein bisschen was davon, von … Wundheilung.«
»Den Pitbull hat es aber noch viel schlimmer erwischt«, sagt Leschinski und kramt wieder sein Grinsen hervor.
»Tatsächlich?«
Er macht eine Bewegung mit seinem Daumen über den Hals.
»Komplett gekillt.«
»Sie?«
»Unglaublich, oder? Statt in Panik wegzurennen, was ja auch nichts bringt, weil einem die Töle dann eben den Arsch aufreißt, ist sie einfach arschcool stehengeblieben, mit einem Schrauben … .
»Leschinski, bitte! Man muss da nicht stolz darauf sein, das war einfach … Selbstverteidigung, der Bull oder ich. Eine widerwärtige Situation, verstehen Sie?«
Schrödinger nickt nachdenklich mit dem Kopf.
»Solche Biester lassen einem manchmal keine andere Wahl.«
»Und wie die Snatcherglatze dann geheult hat, ha!, ganz großes Kino.«
Leschinski haut mit der Faust auf den Kofferraumdeckel, der blechern ins Schloss donnert. Schrödinger schaut Leschinski aus den Augenwinkeln an, reibt sich mit der Hand über die Bartstoppeln. Er murmelt etwas da rein, etwas wie: Ein Snatchersbull, hmmm, das wäre tatsächlich großes Kino.
Wir folgen ihm zu einem Treppenaufgang, der wohl ins Café führt, er wolle uns seine Frau vorstellen. Ich bleibe ein paar Schritte zurück, drehe mich um die eigene Achse. Wir sind in einem sorgsam renovierten, alten Hofanwesen angekommen. Der Ton, den ich im Kofferraum gehört habe, muss von dem großen Tor gekommen sein, grün gestrichenes, schweres Holz, als Schrödinger es hinter uns wieder geschlossen hat. Das Tor ist in einen Gebäudeteil integriert, vermutlich das Wohnhaus, gerippt in rötlich-braunem Fachwerk und wie alle anderen Gebäude, die früher vielleicht einmal Ställe, Lager und Scheune waren, aus unverputztem, handbehauenen rötlichen Steinen – wie die Häuser im Süden. Hat Leschinski … hat er mich etwa über die Alpen gebracht, in gut 30 Minuten? Der Hof ist voll mit Pflanzen: Olivenbäume (Olea europaea), Zitronenbäume (Citrus × limon), Feigenbäume (Ficus carica), Oleander (Nerium oleander), Töpfe mit Kräutern, ein Fliederbaum (Syringa vulgaris) streckt sein Zweige aus einem leicht erhöhten Gärtchen in den Hof hinein - der Wind mischt die Düfte der Pflanzen zu einer wundersamen Mischung und trägt sie in sanften Wellen durch den Hof.
Ich streiche im Vorbeigehen über einen der Olivenbäume, der nahe an der Treppe zum Café steht. Trockene, widerständige Zweige, kleine Früchte hängen daran, man mag das kaum glauben, hier, wenn Leschinski nicht tatsächlich Wunder vollbracht hat, nur ein paar Kilometer unterhalb des 50. Breitengrads. Zwischen Zweigen und Cafémauer glitzern Fäden, ein Spinnennetz. Spinnen fand ich immer eklig. Matthias hat sie mit der bloßen Hand gefangen und sie dann aus der Wohnung befördert. Dafür bekam er von mir das Heldenabzeichen am goldenen Band. Und jetzt? Ist es ein sechsbeiniges Insekt mit einem dicken Körper, auf dem ein Kreuz prangt und das andere, fliegende Insekten fängt, wie z. B. diese … Fliege, die im Netz hängt, nicht weit von der Kreuzspinne entfernt. Sie ist … keine normale Fliege, sie glitzert schuppig, wie … ein Reptil, der Bauch feuerrot, der Rücken unter den Flügeln blau-grün. Eine der seltenen Drachenfliegen vielleicht? Wie schade, aber ihr Schicksal ist bereits besiegelt, Spinnfäden schlingen sich um ihre Beinchen, sie hängt regungslos darin, ich wende mich ab. Eine leichte Brise weht in mein Haar, an mein Ohr, sie trägt einen Ton heran, eine Melodie, eine Stimme summt: ›Komm, befreie mich und fliege mit mir davon.‹ Ich drehe mich wieder zum Spinnennetz um. Die Drachenfliege hängt weiter reglos darin, nur der Wind bewegt sie – und etwas auf meinem Rücken, etwas leichtes, anwehbares – aber … da ist nichts, keine Flügel, nichts, was mich die Drachenfliege befreien und mit ihr davonfliegen ließe. Es ist nur ein Windspiel, der Hauch einer Illusion.
»Geht’s wieder mit dem Bein?«, fragt Leschinski, der schon oben auf dem Treppenabsatz steht. Die Treppe ist aus grauem verwittertem Stein, man kann an ihr von zwei Seiten nach oben steigen. Ein gusseisernes, nach Patina schimmerndes Geländer umrahmt sie, der Absatz gleicht einer Empore. Ich nicke mit dem Kopf, ja, es gehe. Tatsächlich ist mein linkes Bein fast vollständig wieder da, es nimmt problemlos die erste Stufe, Schrödinger und Leschinski sind schon im Eingang verschwunden – ich verschwinde ihnen nach, im Augenwinkel ein metallenes, Schild streifend, ein weißer Katzenkopf auf schwarzem Grund: ›Schrödinger’s Cat: Wanted dead and alive‹.
Der Eingang mündet direkt in den Caféraum. Er riecht nach altem Holz und frischem Putzmittel. Eine Frau steht in einer Gruppe von Stühlen, die sie wohl gerade vom Tisch genommen hat. Andere Stühle warten noch darauf, wieder auf die Füße gestellt zu werden. Dazwischen stehen Sofas, kleine Tischchen und alte Sessel. Keins gleicht dem anderen, als wäre jedes Einrichtungsstück ein Individuum für sich. Neben dem Eingang befindet sich die Theke, eine große Tafel hängt an der Wand dahinter, die in Schönschrift sagt, was es zu essen und zu trinken gibt.
Die Frau hat die dunkelblonden Haare zu irgendetwas nach hinten gebunden, Leschinski und sie schütteln schon Hände, sie trägt abgewaschene braune Cordhosen, ein rosa Baumwollhemd darüber.
»Darf ich vorstellen«, sagt Schrödinger, »das ist meine Frau Lydia.«
»Hallo, freut mich dich kennenzulernen, Sabine, oder?«
»Ja … Sabine … Saxild, freut mich auch.«
Sommersprossen sprenkeln ihr Gesicht, das einen gesunden rosa Teint und eine rundliche Tendenz hat, aber nicht in dem Ausmaß wie das ihres Mannes. Dafür ist sie einen halben Kopf größer als er – und trägt ein Piercing am rechten Nasenflügel. Ihre wasserblauen, wachen Augen betrachten sofort meinen verbundenen Arm.
»Schlimm?«
»Geht so, eine Begegnung mit einem Pitbull.«
»Soll ich es mir mal ansehen?«
»Du kennst dich damit aus?«
»Nicht klassisch, aber ich habe ein ganzes Programm an Kräuterextrakten. Einige davon reinigen Wunden und beschleunigen den Heilungsprozess.«
Die Wirkungen solcher Kräutersachen sind in der Regel wissenschaftlich nicht reproduzierbar. Aber sie scheint sich zumindest auf ihre Weise in der Materie auszukennen, Leschinski und seine Verbandskunst in allen Ehren.
»Wäre wahrscheinlich keine schlechte Idee. Ist eine Fleischwunde, sie brennt aber schon nicht mehr so höllisch wie zu Beginn.«
»Okay, dann ruht euch erst mal einen Moment aus. Die Fahrt muss anstrengend gewesen sein. Erwin zeigt euch eure Unterkunft.«
Auch sie verliert wie ihr Mann kein Wort darüber, warum Leschinski und ich hier sind – als wären wir gute Bekannte, die für ein paar Tage zu Besuch bleiben würden.
»Ein feiner Plan«, sagt Leschinski, bereit seine Unterkunft in Beschlag zu nehmen.
Schrödinger führt uns wieder hinaus in den Hof. Er deutet auf das Gebäude an dessen hinterem Ende. Unsere Unterkunft läge in der ehemaligen Scheune. Sie hätten das erste Geschoss ausgebaut, falls Gäste wie wir kämen und ein paar Tage bleiben wollten. Schließlich sei es ja eine schöne Gegend hier, ein Geheimtipp sozusagen. Er öffnet die Tür, die in das große Scheunentor eingelassen ist und geht hinein. Drinnen breitet er zwischen mannshohem Mauerwerk die Arme aus: das sei früher die Tenne gewesen – ich weiß nicht, was er damit meint, will aber aus Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber nicht meine Unwissenheit zur Schau stellen, Leschinski scheint es ähnlich zu gehen, wir nicken brummelnd, zustimmend, wissend, wir Scheunenconnaisseure. Auch die Weinkeller links und rechts gäbe es noch, nur in anderer Funktion, auf denen seien früher Stroh und Heu gelagert worden. Jetzt lagert dort nichts mehr. Stattdessen stützen dicke, sich am oberen Ende gabelnde Balken eine Decke ab. Die Decke hätten sie eingezogen, nach Bauart der Altvorderen, aus Holz und Lehm und die Tenne unberührt gelassen. Man dürfe historisch gewachsene Strukturen, wenn irgendmöglich, nicht antasten, sie seien schließlich ein Monument von Zeit und Kultur, hier entlang.
Wir treten durch eine grüne Tür in einen Treppenaufgang. Die Treppe ist aus dunklem Holz, man sieht ehemalige Astlöcher in den Stufen. Die Treppe hätten sie aus einem alten Haus in Undenheim geholt, die Besitzer dort wären gerade dabei gewesen, sie wegzurenovieren, alles müsse ja heutzutage groß und weiträumig sein und … kalt. Wir gehen am Eingang zum ersten Stock vorbei. Unsere Unterkunft sei vom Dachgeschoss aus besser zu erreichen. Besser zu erreichen? Was meint er damit? Gibt es etwa noch eine … weitere Etage?
Der Eingang zum Dachgeschoss führt uns … in einen einzigen großen Raum, ein Studio. Die spärlich über die große Fläche verteilten Möbel sind mit weißen Laken zugedeckt, man kann nur erahnen, was sich darunter befindet. Der dunkle Holzboden, auf dem sie stehen, ist von … hellen, gläsernen Platten durchsetzt, was ein wenig … inkonsistent aussieht. Der Raum hat keine Decke, sondern saugt sich bis zum Scheunendach hoch. Licht fällt von großen Dachfenstern ein, zu denen jeweils kleine, hölzerne Treppen führen, zum Öffnen und Schließen wahrscheinlich - eine durchaus praktische Idee. Ob ich … . Natürlich, sagt Schrödinger und ich steige eines der Treppchen nach oben. Das Dachfenster öffnet sich leicht, wie von selbst, obschon es so groß ist, eine Brise Landluft weht mir über das Gesicht, die Pflanzendüfte vom Hof sind jetzt mit etwas erdigem vermischt. Ein paar Dutzend roter Dächer liegen vor mir, vielleicht liegen noch ein paar Dutzend hinter mir – und das scheint es aber dann schon gewesen zu sein. Landleben pur. Ein Kirchturm wächst aus einem kleinen Platz hervor, die Straße daran scheint ortsauswärts zu führen. Ob wir von da gekommen sind? Ob es dahin zu meinem früheren Innenleben zurückgeht? Vielleicht liegt es ja in vielen kleinen Stücken auf der Straße und wir müssen es nur wieder einsammeln und richtig zusammensetzen. Die letzten Dächer und Häuser sind von großen Bäumen umsäumt, das könnten Ulmen (Ulmus) sein, erstaunlich, sind die meisten Ulmen doch schon vor Jahrzehnten dem Splintkäfer und dem von ihm eingeschleppten Pilz zum Opfer gefallen. Dahinter beginnen Felder, Wein, eine Menge Weinfelder und Getreidesachen. Mitten in den Getreidesachen steht ein … ein großer grauer Klotz – der passt so gar micht in die ihn umgebende Idylle.
»Was ist das für ein Gebäude da in den Feldern?«
»Das ist die ehemalige Maschinenfabrik.«
Und? Schrödinger scheint es im Gegensatz zu seiner Scheunenredseligkeit bei dieser dürren Information belassen zu wollen. Aber haben Gäste nicht ein Recht darauf, ein Recht zu wissen, was sie umgibt? Ich frage nach.
»Und jetzt … jetzt ist da nichts mehr?«
»Nein, früher wurden da … Werkzeugmaschinen gebaut, aber das hat sich irgendwann nicht mehr gelohnt. Die Fabrik wurde dann dicht gemacht.«
»Und die Leute?«
»Entlassen.«
»Und jetzt steht sie leer?«
»Sie rottet … «, er spricht das »r« wie ein Mahlwerk aus, »vor sich hin. Gebäude und Boden gehören noch der ehemaligen Eigentümerin, aber die hat keine Interesse, da auch nur noch einen müden Cent reinzustecken.«
Hmmm …
»Hier geht es in eure … Unterkunft.«
Wie, nicht das Studio hier? Was macht er denn da? Legt sich in der Mitte des Raums auf die Knie und wischt mit einem Gegenstand über den Boden. Etwas surrt, ich trete näher, ein Bereich im Holzboden, vielleicht ein mal ein Meter groß bewegt sich und fährt nach unten, wie … wie eine Falltür. Gegenüber der Falltür werden Sprossen sichtbar … eine Leiter – das ist nicht wahr. Leschinski beugt sich über die Luke, guckt der sich öffnenden Falltür hinterher und sagt nur:
»Goiiil.«
»Für Gäste, deren Privatsphäre eines besonderen Schutzes bedarf.«
Schrödinger zieht die eine Hälfte seines Mundes zu einer Andeutung von … etwas auseinander. Wir steigen die Leiter hinab. Mein Arm schmerzt, aber ich kann mich einigermaßen nach unten hangeln. Ich erwarte einen dunklen, muffigen Raum, eine Höhle, in der sich Verbrecher verstecken – und gelange in ein Zimmer, das fast genauso lichdurchflutet wie das Studio über uns ist. Wie geht das? Die Glaseinlässe im Boden? Tatsächlich. Das Licht flutet von dort säulenartig herein und verteilt sich im Raum. Aber was nutzt ein solcher Raum, wenn er durch das Glas sichtbar … ?
»Das Glas lässt das Licht durch, aber keine neugierigen Blicke. Hier im Boden sind noch einmal identische Gläser eingebaut, so dass im 1. OG die Illusion entsteht, es wären Glas und Decke zum Dachgeschoss. Aber das ist nicht der Fall. Wir sind hier in einem Zwischengeschoss, von dem nur Lydia und ich … und die hier einquartierten Gäste wissen. Von außen sieht man der Scheune das nicht an.«
Ein Zwischengeschoss. Eine Zwischenwelt. Für Zwischenweltmenschen wie mich. Der Raum hat alles, was es zum Bleiben braucht: Tisch, Stühle und Schränke aus hellem Holz, eine Sitzecke aus blauem Stoff, zwei Betten im Futonstil. Eine weiße Tür führt in ein Nebenzimmer. Das dürfte das Bad sein. Ich lasse mich auf eins der beiden Betten fallen. Es ist weich und nimmt mich in sich auf wie ein dichter Bausch feinster Watte.
»Und wo schläft Leschinski?«
»In dem zweiten Bett, warum? Ihr könnt die Betten natürlich auch zusammenschieben.«
Leschinski zwinkert mir zu, er hole dann mal unsere Sachen aus dem Auto. Unsere Sachen? Wird er etwa vertraulich? Ich taste nach meiner Umhängetasche, nach dem Schraubendreher darin.