DIE FRAU IN DER WOHNUNG



Der Flur ist vom Haupteingang kaum zu erkennen gewesen. Darauf muss man erst einmal kommen, dass sich darin noch eine Wohneinheit befindet. Die Metalltür am Ende sieht eher wie ein Behelfsnotausgang aus. Alles ein bisschen heruntergekommen, ganz anders, als der Rest des Gebäudes, in dem ich jetzt minutenlang herumgeirrt bin. Auf der Klingel steht Endlichs Name. Doch Moment mal, die Wohnungstür ist nur angelehnt. Es gibt Situationen, in denen das kein gutes Zeichen ist. Also behutsam vorgehen, anklopfen, rufen und kurz warten, ob sich in der Wohnung etwas tut.
»Hallo, ist jemand zu Hause?«
Und das ganze mit etwas Husten garnieren, verdammt.
Aus der Wohnung kommt ein leises ›Ja?‹. Eine Frauenstimme. Vielleicht die Freundin, auch wenn draußen auf dem Klingelschild nur der Name des Toten steht. Jetzt geht die Wohnungstür auf. Vorsicht. Eine Frau erscheint. Dunkle, mittellange Haare, schlank, etwa einssiebzig groß. Sie trägt Jeans, eine hüftlange, dunkle Jacke und eine rote Umhängetasche. Es sieht so aus, als sei sie gerade im Aufbruch begriffen. Leicht unterränderte Augen. Sie schauen zuerst überrascht, dann erschrocken, als sie meine Dienstmarke erkennen.
»Guten Tag, meine Name ist Gruber von der Kripo Mainz. Wohnt hier Peter Endlich?«
»Ja … «
Die Frau ist keine klassische Schönheit, die Wangenknochen stehen zu sehr hervor und der Mund öffnet sich unsymmetrisch. Ihre Stimme zittert ein wenig.
» … aber er scheint nicht da zu sein.«
Das ist kein Wunder und der Grund dafür ist wenig erfreulich.
»Wohnen Sie zusammen hier in der Wohnung?«
»Nein, ich … bin eine Bekannte und wollte mich nur verabschieden, bevor ich wieder zurück nach Hause fahre. Die Tür stand offen … .«
Die Tür stand offen, soso.
»Wohnt außer Peter Endlich noch jemand in der Wohnung?«
»Nein, ich glaube nicht. Ist etwas mit ihm passiert?«
»Wir sind gerade dabei, das herauszufinden. Darf ich mich kurz in der Wohnung umsehen?«
Die Frau tritt zur Seite. Der Flur ist ziemlich kahl, Endlich hat wohl nicht so viel Wert auf Wohnlichkeit gelegt. Vier Türen gehen ab. Zwei davon sind offen, eine … in eine schmucklose Küche, die bis auf die Rotweingläser in der Spüle aber sehr sauber ist und die andere in … das Wohnzimmer. Wow, quasi eine Bibliothek, da stehen ja Hundertschaften von Büchern im Regal, daneben eine Art Sitzecke und ein Schreibtisch. Von dem, was an dem Toten noch erkennbar gewesen ist, also alles halsabwärts, hätte ich auf eine andere Ausstattung getippt – weniger Belesenheit, mehr Prollkram, ein Schlangenterrarium oder sowas. Seltsam. Hinter der Tür gegenüber ist … das Schlafzimmer, ein Raum mit Schrank und Bett, cremefarbene Bettwäsche, sauber und glatt hergerichtet, als hätte noch nie jemand darin geschlafen. Im Schrank ist vielleicht noch mehr Spielzeug à la ›zwei P’s‹ versteckt. Obwohl die Wohnung auch danach nicht aussieht. Aber das ist jetzt nicht mein Job. Darum soll die SpuSi sich später kümmern. Und zum Schluss: Das Bad – ohne Fenster und schon etwas in die Jahre gekommen, der Duschvorhang passt dazu, vor dem Waschbecken stehen ein paar Fläschchen herum. Gut, keine Anzeichen eines Einbruchs oder Ähnlichem, die Wohnung scheint zu bestätigen, was die Frau sagt. Sie steht regungslos im Türrahmen. Ich muss ihr ein paar weitere Fragen stellen.
»Kennen sie Peter Endlich schon lange?«
Sie hebt den Kopf in meine Richtung, dahin, wo die Frage hergekommen ist.
»Wir haben uns gestern bei einem Glas Rotwein kennengelernt.«
Deshalb die Rotweingläser. Und gestern ist nicht gerade lange. Andererseits ist die Frau im Moment die einzige Person, die Endlich gekannt hat und ihn identifizieren könnte. Das Transparenzregister hat für den näheren Umkreis keine verwandtschaftlichen Beziehungen gelistet. Und die erweiterte Umkreissuche kann Stunden dauern. Also … .
»Gut. Ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Dürfte ich sie daher kurz zum Auto bitten. Es steht vor dem Haus. Sie sind übrigens Frau … ?«
»Sabine Saxild.«
Ein ungewöhnlicher Name. Ihr Blick flackert an mir vorbei. Wer lässt sich schon gerne von der Polizei befragen.
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen … .«
»Manchmal sind es schon die kleinen Dinge, die uns weiterhelfen.«
Doch in ihrem Fall werden die kleinen Dinge vermutlich nicht ausreichen. Ich schließe die Wohnungstür hinter mir. Wenn die Identität geklärt ist, kann sich die SpuSi dann auch um die Wohnung kümmern. Frau Saxild schaut kurz zur Tür zurück. Das tut mir leid. Sie tanzten wohl nur einen Abend lang.
Der Regen hat fast aufgehört, nur noch ein paar Bindfäden. Das hätte er sich auch etwas früher überlegen können. Die Wagenverriegelung hebt sich mit leichtem Klacken auf. Das Lichtspiel von Vorder- und Rückleuchten begrüßt uns freudig. Ich muss endlich Frank mal fragen, wo man diesen Scheiß abstellen kann. Frau Saxild zögert kurz. Vielleicht hat sie einen Streifenwagen erwartet. Ich öffne die Beifahrertür.
»Bitte steigen sie ein.«
Sie setzt sich still und wortlos in den Wagen. Möglicherweise ahnt sie schon, dass das Ganze nichts gutes verheißt. Die Beifahrertür fällt satt ins Schloss. Man sagt, Kripobeamte seien abgebrühte Schweine, aber das stimmt so nicht. Eine schlechte Nachricht zu überbringen, fühlt sich auch beim tausendsten Mal Scheiße an. Doch daran lässt sich jetzt nichts ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Also tief Luft holen, einsteigen und:
»Heute Nacht wurde im Gonsenheimer Wald ein Mann überfahren. Er trug diesen Ausweis bei sich.«
Frau Saxild nimmt den Ausweis. Ihre eine Mundseite steht einen Spalt offen. Sie ahnt bereits, wem der Ausweis gehört, dreht ihn etwas hin und her, als könne nicht wahr sein, was sie darauf sieht. Aber es ist wahr. Ihre Wangenknochen mahlen aufeinander.
»Das ist ihre Bekanntschaft von gestern Abend, nicht wahr?«
Frau Saxild starrt regungslos auf den Ausweis, keine Reaktion, als würde ich gegen eine Wand reden. Ich klopfe nochmals vorsichtig an. Sie nickt, ohne vom Ausweis aufzusehen.
»Okay, wir ... müssen im nächsten Schritt sicher gehen, dass der Tote tatsächlich Peter Endlich ist. Ich muss sie daher bitten, mit in die Rechtsmedizin zu kommen und sich den Leichnam anzusehen.«
Jetzt dringt doch etwas durch die Erstarrung hindurch. Sie dreht mir den Kopf zu. So etwas wie Angst.
»Warum ich? Gibt es keine Freunde oder enge Verwandte?«
»Möglicherweise schon, aber wir müssten sie zuerst ausfindig machen. Sie sind bisher die einzige Person, die Peter Endlich gekannt hat.«
»Aber … Sie haben doch das Foto auf dem Ausweis. Sie können das doch mit dem Toten vergleichen.«
»Das stimmt. Nur hat der Tote kein Gesicht mehr. Das Auto hat seinen Kopf zertrümmert.«
»Oh mein Gott.«
»Ja, das ist nicht schön anzusehen. Ich würde ihnen diesen Anblick auch gerne ersparen, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.«
Frau Saxild gibt mir den Ausweis zurück. Ich starte den Wagen. Sie wendet sich ab und starrt aus dem Fenster. Ihr Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Ein Regentropfen schliert daran herunter, wie eine Träne.
Die Neustadt ist ein Einbahnstraßenlabyrinth. Nach einem halben Dutzend Kehrtwenden, biegt man endlich in die Boppstraße ein. Keine Ahnung, wer sich diesen Schwachsinn ausgedacht hat. Zum Glück ist der Verkehr heute nicht so katastrophal wie unter der Woche. Bis zur Rechtsmedizin hoch ist es sonst eine echte Geduldsprobe. Hier an der Kreuzung Kaiserstraße muss man normalerweise eine halbe Ewigkeit warten, bis man einfädeln kann. Da wird schon mal die Hand nervös und man möchte am liebsten das Blaulicht aufs Dach knallen. Doch heute scheint selbst die bescheuerte Ampelschaltung es gut mit uns zu meinen. Wiesengrüne Welle für die Bullen: Kaiserstraße, Gärtnergasse, Bleiche, auf der Gaustraße wahrscheinlich noch einer Straßenbahn hinterherzuckeln und dann hätten wir es auch schon. Frau Saxild starrt noch immer aus dem Fenster. Und jetzt fängt es auch an, wieder in der Nase zu kribbeln. Als ob der Husten nicht schon nervtötend genug wäre. Die Packung mit den Taschentüchern … ist natürlich leer. Verdammte Hacke! Ob Frau Saxild … ?
»Haben Sie vielleicht ein Tempo greifbar?«
Sie wendet sich vom Fenster ab, greift in ihre Jackentasche und holt eine Packung No-Name-Taschentücher hervor. Ihre Hand zittert leicht. Wer kann ihr das verdenken.
»Danke.«
»Ordentlich erkältet?«
»Kann man wohl sagen. Hat mich pünktlich zu meinen freien Tagen erwischt. Jetzt geht es aber schon wieder.«
»Hier, falls Sie noch welche brauchen.«
Sie legt die Packung in die Mittelkonsole.
»Wo müssen wir eigentlich genau hin?«
»Kennen Sie sich in Mainz aus?«
»Ja, ganz gut. Ich habe vor einiger Zeit hier studiert.«
Studiert, aha, sie ist also nicht ganz fremd hier.
»Die Rechtsmedizin, genau genommen das rechtsmedizinische Institut der Universität, liegt am Ende der Gaustraße, also nicht weit von den Unikliniken entfernt.«
»Da, wo die Straßenbahn hält?«
»Genau. Und Sie sind demnach zu Besuch hier?«
»Bei einer Freundin, wir sind gestern zu einer Geburtstagsparty eingeladen gewesen.«
»Und dort haben Sie Herrn Endlich getroffen?«
»Nicht direkt. Ich habe ihn zufällig im Haus, wo die Party stattgefunden hat, getroffen und … wir sind dann ins Gespräch gekommen.«
»Verstehe.«
Und einige Stunden später liegt er totgefahren im Straßengraben.
Tatsächlich fährt vom Schillerplatz gerade eine Straßenbahn ab. Die Gaustraße hoch dürfen wir ihr jetzt also wie vermutet hinterherzuckeln, Linie 51 nach Hechtsheim. Frau Saxild hat sich wieder abgewendet. Ihre Hände umgreifen die Umhängetasche, Halt suchend. Mehr gibt sie von ihrer Unsicherheit nicht preis. Der Abend mit Endlich muss mehr gewesen sein, als nur ein oberflächliches Geplänkel. Wenigstens kommt keine andere Straßenbahn entgegen, die von unten müssen dann immer warten. Da ist die Einfahrt zur Rechtsmedizin, etwas versteckt, ohne Straßenbahn voraus brettert man gerne mal daran vorbei. Wenigstens ein Vorteil.
»So, da wären wir.«
Okay, sagt Frau Saxild jetzt nur, schnallt sich ab und steigt aus dem Auto.
»Kommen Sie, hier entlang. An Sonntagen ist die Rechtsmedizin nur notfallbesetzt. Wir müssen uns deshalb an der Gegensprechanlage anmelden.«
Die Gegensprechanlage gibt knarzende Geräusche von sich, bis auf der anderen Seite der Knopf gedrückt wird und Dr. Martenstein blechern aus dem Lautsprecher fragt:
»Ja?«
»Gruber. Wegen des Unfalltoten, ich habe Frau Saxild bei mir. Sie ist eine Bekannte des Toten. Ich möchte mit ihr die Identifikation durchführen.«
»Ah, sehr gut, kommen Sie doch gleich runter zum Obduktionssaal.«
Der Türöffner schnarrt.
»Wir müssen links zum Fahrstuhl und dann ins Untergeschoss fahren.«
»Ins Gebeinhaus sozusagen.«
»Sozusagen.«
Der Fahrstuhl surrt vom Untergeschoss herauf. Die Türen öffnen sich. Jetzt muss ausgerechnet das Handy klingeln. Auf dem Display leuchtet ›Reiner‹. Habe ich ihm nicht gesagt, dass er mich nicht im Dienst anrufen soll. Was will er nur? Wegen heute morgen?
»Entschuldigen Sie bitte. Ja, was gibt’s?«
Die Fahrstuhltüren schließen sich und betten Reiners Stimme in weißes Rauschen ein.
»Hey Liebes, wie geht’s Dir? Ich habe Dich im Büro nicht erreicht. Bist Du unterwegs?«
Sieht ganz danach aus. Was soll überhaupt diese Frage?
»Hör mal, es ist gerade wirklich ungünstig. Hat es nicht Zeit bis heute Abend?«
»Ich wollte nur hören, wie es Dir geht, erkältungstechnisch. Wolltest Du nicht wenigstens im Büro bleiben?«
Das hatten wir doch heute morgen schon diskutiert. Wie stellt er sich das denn vor? Vom Schreibtisch aus lösen sich selten Fälle. Und all dem Abschaum, der Leute abknallt oder platt fährt kümmert es einen Scheiß, ob ich Hustenreiz habe und mir der Rotz aus der Nase läuft. Doch ich darf mich jetzt nicht gehen lassen. Frau Saxild starrt auf die Fahrstuhlanzeige.
»Wenn es nicht ginge, wäre ich nicht zum Dienst gekommen. Du, ich habe gerade eine Zeugin bei mir, lass uns heute Abend weiter reden.«
»Okay, ich koche uns dann was schönes, was meinst Du? Vitamine!«
»Ich weiß nicht, ob ... .«
Der Fahrstuhl hält an.
»In Ordnung, also bis später.«
Martenstein kommt uns bereits auf dem Flur entgegen. Einer der wenigen Männer, um den man eine Ehefrau beneiden kann: gut aussehend, gebildet, allürenfrei und mit einem ordentlichen Gehalt am Ende des Monats.
»Das ist Frau Saxild, mit der ich die Identifikation durchführen möchte.«
»Dr. Martenstein, freut mich.«
Ja, sagt Frau Saxild nur und gibt ihm wie gedankenverloren die Hand.
»Bevor wir uns den Toten ansehen, müsste ich noch die Personalien aufnehmen. Darf ich mir dazu den Vorraum kurz ausborgen?«
»Natürlich, ich bereite den Toten schon einmal vor.«
Der Vorraum zum Obduktionssaal wirkt wie ein Büro, in dem all die Gegenstände angesammelt werden, die in anderen Büros keine Verwendung mehr haben. Stahlregale, auf denen sich meterweise Ordner mit Obduktionsanalysen befinden. Dazwischen ein Tisch und zwei Stühle.
Frau Saxild nimmt ihre Umhängetasche ab und setzt sich an den Tisch. Aus der Umhängetasche holt sie ihren Ausweis hervor.
»Den brauchen Sie vermutlich.«
»Ja, bitte. Eine reine Formalie. Ich muss sicher gehen, dass Sie auch die Person sind, als die Sie sich ausgeben.«
Aber da ist noch etwas anderes.
»Darf ich Sie noch etwas zu gestern Abend fragen? Hat sich Herr Endlich während des Gesprächs auf irgendeine Weise sonderbar verhalten. Ich meine, der Gonsenheimer Wald ist ein gutes Stück von seiner Wohnung entfernt, so dass man sich die Frage stellen könnte, was er dort gemacht hat und so wichtig gewesen sein muss, dass er vergessen hat, die Wohnungstür zu schließen.«
Sie bleibt einen Moment lang stumm, versucht sich zu erinnern.
»Nein, wir saßen auf der Treppe zum Hinterhof, haben geredet und Rotwein getrunken. Am Ende hat er sich verabschiedet und ist wieder zurück in seine Wohnung gegangen.«
Und irgendwann später verlässt er die Wohnung wieder und macht sich zum Gonsenheimer Wald auf.