LEERER RAUM

Was tue ich hier eigentlich? Statt die einzig durchgängige Verbindung nach Hause zu nehmen, ist mir nichts besseres eingefallen, als den Rucksack ins Schließfach zu schieben und jetzt zurück zum Gartenfeldplatz zu gehen. Was will ich Peter denn sagen? Und will ER mich denn überhaupt wiedersehen? Noch vor einer Stunde beim Frühstück habe ich nur mit den Schultern gezuckt, als Moni fragte, was ich denn nun mit dem besonderen Hinterhofaugenblick anfangen werde. Ihn in der Schatztruhe der Erinnerung verwahren? Bliebe mir etwas anderes übrig? Sollte ich etwa stammelnd vor Peters Tür stehen? Nie im Leben. Doch genau auf das lasse ich mich jetzt ein, weiß der Teufel warum.
Wenigstens hat der Regen nachgelassen. Den Hosenrändern ist das egal, sie haben sich schön mit Wasser vollgesogen. Mist. Fehlt nur noch, dass die Schuhe durchweichen. An den Spitzen wird es schon klamm. Da vorne kommt Nummer vier. Wenn ich bloß diesen Schwarm Insekten im Magen los würde. Und mein Kopf erst - dröhnt wie kurz nach dem Urknall. Wenigstens habe ich mir diesen zentimeterdicken fahlen Geschmack im Mund mit einer Extraportion Zahncreme wegschrubben können. Ich muss eine erdumspannende Fahne gehabt haben. Weil ich auf der Party am Ende alles durcheinander getrunken hätte: Bier, Wein und angeblich ein par chillige Cocktails mit, wie hat Moni ihn genannt, Mister Supersmart. Was sollte ich auch sonst tun? Nachdem einer, mit dem man sich über Gott und die Welt unterhalten hat, ohne sich nochmals umzuschauen einfach in seine Wohnung zurückgeht? Bei dieser blöden Diskussion um Angstzustände mitmachen? Was für ein Unsinn: Nichts und niemand heilt uns von der Angst. Weder Tabletten noch Therapien. Unter diesen Bedingungen ist es egal wer oder was wir sind. Für Mister Supersmart sind wir angeblich Bioprozessoren und er möchte am liebsten Pillen gegen die Angst verkaufen. Gut. Monika glaubt vorbildlich an eine Seele im Menschen und will die gequälten davon in ihrer Praxis therapieren. Auch gut. Und Matthias fragt sich vielleicht, wie viel er von seiner eigenen Seele verkaufen muss, um ein schickes Loft am Gartenfeldplatz bewohnen zu können. Warum nicht? Mister Supersmart scheint diese ausgesprochen tolerante Haltung gefallen zu haben. Angeblich hat er mir seine Telefonnummer gegeben. Um mich nach Monis Meinung nur schnellstmöglich ins Bett zu kriegen. Keine Ahnung, wo die Nummer abgeblieben ist. Vermutlich in den erstbesten Mülleimer geworfen. Also was?
Nummer 4 leuchtet, darunter die ganze Batterie an Wohnungsklingeln. Die von Matthias muss auch dabei sein. Bloß nicht hinschauen. Wie heißt Peter eigentlich mit Nachnamen? Ja, prima, soll ich jetzt alle mit einem ›P-Punkt‹ anklingeln? Oh, da geht die Tür auf, jemand kommt aus dem Haus, eine Kurzhaarfrisur mit makellos getrimmten Koteletten. Ein apartes Lächeln fragt, ob ich herein wolle und hält die Tür auf. Dazu sage ich nicht nein.
Die Haustür fällt hallend ins Schloss. Mein Regenschirm hinterlässt Wassertropfen auf dem edlen Marmorboden. Vielleicht sollte ich ihn erst einmal ausschütteln. So, und jetzt zusammenfalten. Knurps Patentfaltung, eine lohnende Investition. Dort, wo der Putz grau wird, geht der Flur zu Peters Wohnung ab. Im Tageslicht sieht er noch eine Ecke abgewohnter aus. Gleich stehe ich vor der Wohnungstür. Und dann? Habe ich mir nicht geschworen mich von diesen ganzen Männer- und Liebesgeschichten fern zu halten, weil einer der grandiosesten Irrtümer in der Menschheitsgeschichte? Aber ist das jetzt eine dieser Geschichten? Und selbst wenn … .
Die Klingel an der Wohnungstür sieht nach billigem Hartplastik aus. Darauf ist ein Etikett geklebt: P. Endlich. Das ist also sein vollständiger Name: P. Endlich. Also dann, noch einmal einatmen ... ausatmen ... und die Klingel drücken.
Sonderbar, die Klingel erklingt hell und klar, als würde man schon in der Wohnung stehen. Kein Wunder, die Tür steht auch einen Spalt offen. Und jetzt? Die Höflichkeit gebietet, vor der Tür zu warten und nochmals zu klingeln. Warten, Stille, warten, nur irgendwo weit oben im Haus geht eine Tür auf und Stimmen der Begrüßung rieseln die Stockwerke herab. Ob ich einfach die Tür aufschieben und eintreten darf? Oder doch zuerst noch einmal anklopfen? Die Tür scheint von unendlicher Härte zu sein und die Knöchel meiner Hand fühlen sich an, als würden sie bis auf die Knochen bloß liegen. Die Wohnung bleibt weiter stumm. Der Lack der Tür ist mit groben Strichen aufgetragen worden, die kleinen Nasen und Unebenheiten drücken sich in die Handfläche. Die Tür knarrt, dreht sich in den Flur und gibt ihn dem Blick frei.
»Hallo? Peter?«
Keine Antwort. Ein stummer, leerer Raum. Und in den soll ich nun eintreten? Es ist nur ein Schritt. Aber es fühlt sich an, als würde man in eine andere Welt übersetzen.
Der Flur ist frei von jeglichen Gegenständen. Weiß gestrichen. Vier Türen. Keine Garderobe, keine Jacken, keine Schuhe. Nur die Decke hat in der Mitte eine kleine Beule. Dass muss die Flurlampe sein. Sonst nichts. Ein radikal leerer Raum. Ohne Gegenstände, die ein Leben inner- und außerhalb der Wohnung bezeugen. Wie befremdlich. Was tue ich jetzt darin? Ihn schließen. Hinter der Wohnungstür wird eine weitere Tür sichtbar, die in die Wand eingelassen ist. Ein Wandschrank. Wahrscheinlich sind darin all die Schuhe, Jacken und Taschen verstaut, die dem Flur Leben einhauchen würden. Aber warum nur? Damit der bloße Raum nicht von herumhängenden oder -liegenden Gegenständen beeinträchtigt wird?
»Hallo? Peter, bist du da?«
Meine Stimme, ein Fremdkörper im sonst leeren Raum. Doch die Stille erobert ihn schnell wieder. Fast. Von links kommen Tropfgeräusche her. Wassertropfen fallen träge auf den blechernen Boden einer Spüle. Das muss die Küche sein. Sie gleicht dem Flur, nur dass sie mit Möbeln ausgestattet ist, ohne die sie keine Küche wäre: Zwei Stühle, ein Tisch. Eine grüne schalähnliche Decke liegt diagonal über dem Tisch und verdeckt nur spärlich das nackte, abgewetzte Holz. An der Wand gegenüber: karge, weiße Küchenschränke. Zwischen Kühlschrank und Herd steht der Spülenschrank. Ein weiterer Wassertropfen quillt aus dem Wasserhahn und fällt dickbauchig ins Spülbecken. Neben dem Spülbecken stehen die beiden Rotweingläser von gestern Abend. Ungespült. Wollte Peter die Gläser nicht gleich abspülen, weil er herumstehendes schmutziges Geschirr widerlich fände? Er hat sie nicht einmal unter den Wasserhahn gehalten. Auf dem Glasboden der beiden Gläser schimmern Rotweinkristalle und am Glasrand kann man die Abdrücke unserer Lippen sehen. Welcher Abdruck wohl zu Peters und welcher zu meinen Lippen gehört? Es mag viele naheliegende Erklärungen dafür geben, warum Peter entgegen seiner Ankündigung die Gläser nicht gespült hat, nur scheint der Zustand der Wohnung zu sagen: Vergiss die naheliegenden Erklärungen.
Die Tür zum Zimmer hinter der Küche ist nur angelehnt. Ich tue ja eigentlich nichts. Ich tippe sie nur an. Und sie geht auf. Das muss wohl das Wohnzimmer sein. Ein immenses Bücherregal nimmt eine ganze Wand ein. Die restlichen kargen und spärlich verteilten Möbel schrumpfen geradewegs vor dieser schieren Menge an Papier, Buchstaben und Gedanken. Myriaden von Worten formen sich darin vermutlich zu abstrakten Ideengebäuden. Aber zu welchem Zweck? Dass man sie aus dem Regal herausnimmt, sie zu verstehen versucht und sie dann wieder ins Regal zurück stellt? Doch der Welt ist das egal. Sie ist danach die gleiche wie zuvor. In der obersten Regalreihe scheinen die Klassiker zu stehen, einige davon sagen selbst mir etwas, Platon, der mit der körperlosen Liebe. Wie das funktionieren soll, bleibt sein Geheimnis. Kant ist mir auch schon mal über den Weg gelaufen, der war in der Aufklärung aktiv, aber angeblich unlesbar. Was bringt das dann? Und der mit der Beschreibung gehört auch dazu, Wittgenstein, Ludwig, Gesammelte Werke. Die Reihen darunter sind völlig unbekanntes Land: ›Die Struktur der Erscheinung‹, ›Wort und Gegenstand‹, … . Kein Krimi, kein Technikbuch. Alle fast wie unberührt, nur das hier ist voll mit Lesezeichen: ›Deskriptive Philosophie‹ – war das nicht das Seminar, das er nächstes Semester machen wollte? Die CD dieser Avantgardeband dazu würde mich ehrlich gesagt mehr interessieren. Nur von Musik ist hier weit und breit nichts zu sehen. Und rumwühlen ginge wohl eindeutig zu weit. Aber das Buch – er wird wohl nichts dagegen haben, wenn ich es einmal kurz aus dem Regal nehme. Schmuckloser Einband, der Autor heißt Hilmar Karnapp. ›Eine nicht-disruptive Methode‹. Das Papier riecht noch wie neu. Doch es ist übersät mit Lesezeichen und Anmerkungen. Die sehen fast schon wie Korrekturfahnen aus. Ob das Peters Schrift ist? ›Nein, drei Ausrufezeichen, jeder logische Schluss ist dis … ruptiv, ohne Ausnahme.‹ ›Beispiel unpassend – der Tele …‹ was? ›… transporter ist ein fiktionales …‹ Das ist fast nicht mehr lesbar ›… beschreiben ausschließlich reale Elemente.‹ Hier was groß und umrandet: ›Die deskriptive Philosophie beschreibt nur – und entlarvt damit zugleich die Welt.‹ Und dann? Die letzten Seiten stehen etwas heraus. Das sind lose Blätter. Per Hand bis an den Rand vollgeschrieben: ›Autopoiese – die generative Kraft deskriptiver Philosophie. Studien legen nahe, dass gehaltvolle Deskriptionen, wenn sie auf ein wohlstrukturiertes Fremdsystem treffen, Entitäten erzeugen können, die mehr sind als Sprache. Bewusstsein ist ein Beispiel dafür.‹ Was soll das denn bedeuten? Meint er wirklich … . Moment, eine der hinteren Seiten rutscht ganz heraus. Was ist das? Das ist kein beschriebenes Blatt. Es sieht aus wie … ein Foto. Das Foto einer jungen Frau. Sie lehnt mit verschränkten Armen gegen einen Pfosten und schaut mit ernstem Blick in die Kamera. Die dunklen Haare sind zu einem wilden Knoten zusammengebunden. Hohe Wangen, ein leicht schief stehender Mund. Wer das wohl sein mag? Ob auf der Rückseite etwas dazu steht? Tatsächlich hat jemand in großer Schrift etwas darauf geschrieben, aber nicht zu der jungen Frau, sondern: ›Du bist nicht verloren.‹ Was hat das zu bedeuten? Gibt es da etwas in Peters Leben … ? Ich muss das herausfinden. Vielleicht erklärt das sein merkwürdiges Verhalten gestern Abend – und all das hier. Das Foto würde ich am liebsten mitnehmen, aber das kann ich nicht bringen. Doch Moment, es gibt noch eine andere Möglichkeit. Den Fotomodus des Handys. Die Lichtverhältnisse sind zwar nicht die besten, aber das sollte reichen. Foto und Schrift sind gut genug zu erkennen. Und das Handy verschwindet wieder in der Tasche, als wäre nichts gewesen. Das Foto … . Was ist das für ein Geräusch? Klopft da jemand an die Tür? Tatsächlich, eine Frauenstimme, von einem leichten Husten begleitet, ruft:
»Hallo, ist jemand zu Hause?.«
Mist! Jetzt werde ich dabei ertappt, wie ich in einer fremden Wohnung herumschnüffle. Gibt es eine Möglichkeit, lautlos zu verschwinden? Aber wieso? Was ist so schlimm daran, entdeckt zu werden? Ich habe Peter gesucht und die Tür angelehnt gefunden. Das ist alles. Kein Grund panisch zu werden. Ich lege einfach das Foto in das Buch zurück und schiebe das Buch wieder ins Regal. Dann gehe ich ruhig in den Flur, rufe leise ›Ja?‹ und ziehe die Wohnungstür auf. In der Tür steht eine Frau in dunkelgrüner Outdoorjacke, groß, blond, kristallblaue Augen. Sie hält mir eine ID-Karte vors Gesicht.