OLGA

Zum ersten Mal seit Gründung von Station IVa macht mir die Klinikleitung nicht bedingungslos den Weg zu einer Entscheidung frei. Wenn ich den amnesischen Patienten von IVa auf eine der drei Normalstationen verlegen wolle, wäre das prinzipiell kein Problem, er müsse nur wie alle anderen Kunden der Novoclinic die entsprechenden finanziellen oder vertraglichen Voraussetzungen erfüllen. Mit dieser Aussage hätte ich rechnen müssen. Schließlich geht es um Geld. Und um den ›Ruf‹ der Klinik. Aber ich glaube kaum, dass der amnesische Patient diese Voraussetzungen wird erfüllen können. Und ihn in eine andere Klinik zu verlegen, kommt bei der Schwere der Verletzungen nicht in Frage. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als Hermann einzuschalten. Was ich nur sehr ungerne tue.
Einer der Fahrstühle steht bereit, die Türen einladend offen, um wieder hinunter auf Station zu fahren. Aber ich nehme lieber die Treppe, auch wenn sie die Atmosphäre eines Hinteraufgangs ausstrahlt, Waschbeton, von diffusem Licht erleuchtet. Was sich der Architekt wohl dabei gedacht hat? Immerhin fühlt man sich nicht so eingeengt wie im Fahrstuhl. Und ein bisschen Bewegung tut immer gut, 18 Stufen pro Stockwerk, kleine Nebenbeiübungen für Motorik und Beinmuskulatur.
Ebene 3 Finance und Marketing, in optimistischem Mintgrün: Wenn man Gutes tut, soll man auch davon sprechen. Vielleicht sollte ich die Klinikleitung mal wieder auf den ersten Teil des Slogans aufmerksam machen. Ebene 2 schwereloses Blau, meine Stationen 1–3. Die Stationstür Nummer 3 gleitet zurück, Martins blonder Stoppelkopf schaut vom Stationsdesk auf. Der PMA muss bei ihm liegen und für die Aktualisierung der Patientendaten an den Zentralrechner angeschlossen sein. Martin setzt sich kerzengerade hin, streicht sich über die Uniform, eine gewisse Servilität bekomme ich aus ihm einfach nicht raus.
»Guten Morgen Martin, wie geht’s?«
»Alles bestens, danke.«
»Das Team ist auf Visite?«
»Bis auf Pamela. Sie muss Frau Maier auf die Toilette helfen.«
»Das rechte Bein macht noch immer Schwierigkeiten, hmmm?«
»Es ist schon besser als vor der Operation, aber der Tumor hat wohl etwas Hirngewebe zerstört.«
»Das ist bei dieser aggressiven Tumorart leider fast immer so. Wir können nur hoffen, dass das Gewebe sich bis zu einem gewissen Grade wieder regeneriert. Hat Daniel den PMA hier gelassen?«
»Er hat ihn da auf das Sideboard gelegt.«
An Strom und Zentralrechner angestöpselt. Perfekt. Martin macht Anstalten, mir den PMA zu holen.
»Nein lass nur, das geht schon.«
Das Netz- und das Verbindungskabel ausstöpseln, mehr ist es ja nicht.
»Ich bin für eine Weile auf IVa und anschließend in meinem Büro. Den Piepser habe ich dabei, falls mich jemand sucht.«
»Alles klar, ich gebe das nach der Visite gleich weiter.«
Er lächelt. Fast dienerhaft. Etwas mehr eigene Persönlichkeit täte ihm durchaus gut.
Man merkt, dass Visite ist. Der Flur ist leer, die Tür von Zimmer 322, Frau Hausmann, für die Visite geschlossen: Eine seltene Entzündung im Wirbelkanal. Wie gut, dass sie direkt zu uns gekommen ist. Andere Kliniken hätten wahrscheinlich Tage für die Diagnose gebraucht. Und in dieser Zeit wären bereits erste Lähmungserscheinungen an den Beinen aufgetreten.
Ich halte den Zugangschip an den Leser, die Tür zu Station IVa fährt auf. Nelly trägt frische Wäsche in Zimmer 5. Das Zimmer von Herrn Latowicz. Schade, dass gerade er gestern kollabiert ist. Er war auf einem so guten Weg. Mit der neuen Probe wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Ein Tag zu spät, das Schicksal kann manchmal grausam sein. Heute Vormittag ist die Urnenbestattung und jemand vom Sozialdezernat wird die Trauerrede halten. Mehr können wir nicht mehr für ihn tun. Das Licht aus dem Panoramafenster spielt in Nellys dichten, schwarz-grauen Locken. Darunter der gedrungene Körper. Auch ihr muss ich ein paar Worte Aufmerksamkeit schenken, auch wenn es meine Laune nach dem Krampf mit der Klinikleitung nicht richtig her gibt. Aber die Laune darf in meiner Position keine Rolle spielen.
»Guten Morgen Nelly, na, schon mit frischer Wäsche unterwegs?
»Guten Morgen Maria. Ja, für das Zimmer vom Herrn Latowicz. Es ist wirklich schade um den lieben Kerl. Aber das konnte keiner vorhersehen, die Komplikation.«
»Nein, das hat uns wirklich alle überrascht. Jetzt können wir ihm nur eine letzte gute Reise wünschen.«
»Ja, und wir hier unten müssen weitermachen. Das Zimmer wird doch wieder belegt, oder?«
Nach Plan müsste Emilio heute Abend wieder rausfahren.
»Davon ist auszugehen, ja. Vermutlich schon in den nächsten 24 Stunden.«
»Bis dahin haben wir wieder alles frisch und sauber.«
»Danke, Nelly.«
Sie nimmt einen zweiten Stapel Wäsche vom Wagen. Ich gehe an ihr vorbei zum Zimmer des amnesischen Patienten. Der PMA wacht aus dem Schlafmodus auf und zeigt die neuste, vom Zentralrechner geladene Patientenchart an. Keine wesentlichen neuen Erkenntnisse.
Ich klopfe an, öffne die Tür, der amnesische Patient, den ich einfach nicht ›Starbuck‹ nennen kann, schaut mir entgegen. Nelly hat das Bettoberteil etwas hoch gefahren. Das ist gut für die Kopfverletzung und die Atmung. Aber wie schaut er mich nur an? Als wäre ich nicht die behandelnde Ärztin sondern … eine Erscheinung. Ob er halluziniert? Dafür sieht er nicht verwirrt genug aus. Ich schließe die Tür, sein Blick haftet weiter an mir, die Augen ziehen sich zusammen, er öffnet fragend den Mund:
»Olga?«
Olga? Nein, ich bin nicht Olga. Er sollte mich von gestern doch noch kennen. Ich bin zwei Mal bei ihm gewesen, das zweite Mal sogar ungewöhnlich lange. Trübt sich sein Bewusstseinszustand vielleicht doch ein? Das wäre nicht gut. Oder kommen Bruchstücke aus der Erinnerung zurück? Erinnere ich ihn an jemand?
Ich nehme den Stuhl und setze mich neben ihn an den Bettrand.
»Guten Morgen, ich bin Doktor García Alvarez, die leitende Ärztin, Sie erinnern sich?«
Die Furche zwischen den Augen löst sich ein wenig.
»Ja, Sie … sind gestern da gewesen und haben mich untersucht.«
»Richtig. Aber wen haben sie dann mit ›Olga‹ gemeint?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein, mir ist … dieser Name einfach gekommen, als ich Sie zur Tür hereinkommen gesehen habe.«
Sein Gesicht nimmt einen fragenden Ausdruck an, als versuche er selbst zu verstehen, was gerade passiert ist.
»Ähnele … ich vielleicht einer Frau, die Sie gekannt haben und die Olga hieß?«
Wie merkwürdig das klingt. Als sei ich eine Doppelgängerin. Ausgerechnet von einer Frau mit russischklingendem Namen, ich bin doch nicht … .
»Ich weiß es nicht, der Name … ist wie aus einem schwarzen Loch gekommen. Der Name, sonst nichts.«
Eine Erinnerungssingularität. Das erste, was das schwarze Loch wieder preisgibt. Und mit der Singularität verbunden könnten nach und nach weitere Erinnerungsfragmente hervorkommen. Das wäre zu hoffen.
»Vielleicht ist dieser bloße, nackte Name schon sehr viel.«
»Vielleicht.«
Er schaut mich aus geschwollenen Augen an. Oder durch mich hindurch. Oder … in mich hinein. Ich sollte … mir jetzt die Verletzungen ansehen, die aktuellen Werte auf … Vorsicht! Fast wäre mir der PMA aus der Hand gerutscht, die Klinikluft trocknet die Haut dermaßen aus! Und jetzt tippe ich auch noch auf das falsche Chartssymbol! Also zurück … und nochmal. Zwei neue Sheets mit aktualisierten Blutwerten, die Entzündungsparameter liegen unterhalb des kritischen Bereichs.
»Ich würde mir jetzt gerne Ihre Wunden ansehen.«
»Die Wunden, ja.«
Er wendet seinen Blick ab und starrt an die Decke. Ich werde am Kopf anfangen.
Der Verband ist aus nicht wundhaftendem Material, selbst bei frischen Wunden lässt er sich schmerzfrei entfernen, trotzdem muss ich vorsichtig vorgehen. Ich muss den Kopf ein wenig anheben.
»Geht es?«
Er schließt die Augen, nickt stumm. Selbst unter dem Verband ist die Ausbuchtung am Hinterkopf zu spüren. Zusätzlicher Raum für Gedanken. Nelly hat den Verband vorschriftsmäßig angelegt, Lage um Lage. Die letzte Lage ist mit der speziellen Beschichtung versehen. Sie lässt sich problemlos entfernen, die Wunden werden sichtbar, an der Stirn und hinter dem linken Ohr kommen die beiden große Platzwunden zum Vorschein. Sie sind nicht weiter angeschwollen, nahe den Wundzentren zeigen sich schon erste Gerinnungsinseln. Das sieht sehr gut aus. Der PMA kann mir das noch detaillierter zeigen.
»Ich werde jetzt mit dem Gerät hier Ihre Wunden scannen. Das sieht ein bisschen komisch aus, wenn es auf einen gerichtet wird, aber ich kann so im Detail sehen, wie die Wunden verheilen. Am besten Sie lassen die Augen geschlossen.«
»Okay.«
Der PMA scannt die Wunden und legt die Aufnahmen über die von gestern. Ich zoome hinein. Man sieht jetzt schon, wie die Inkrustationen zunehmen. In ein paar Tagen wird es so aussehen wie ein See der allmählich austrocknet. Ein aktuelles CT müsste Daniel auch abgelegt haben. Da ist es. Unsere Hypothese scheint sich zu bestätigen. Die Läsionen an Frontal- und Seitenlappen nehmen nicht weiter zu, der Hirndruck ist weiterhin relativ niedrig. Schwere Verletzungen, keine Frage, aber dass sie gleich zu einem Ausfall des gesamten Erinnerungssystems führen. Wenn es so bleibt und keine Blutgerinsel entstehen, können wir die nächsten Tage mit der Injektion des Antikonvulsivums beginnen.
»Die Wunden außen wie auch innen fangen bereits an zu heilen. Das sieht vielversprechend aus. Ich lege ihnen den Verband jetzt wieder an. Bleiben sie einfach so liegen.«
»Und was ist mit mir selbst?«
»Wie, mit ihnen selbst?«
»Der Körper fängt an zu heilen, und ich?«
»Aber Ihr Körper ist doch ein Teil von Ihnen.«
»Im Moment ist er einfach nur … eine Gliedermaschine, die mich bleischwer umgibt.«
Der Körper eine Maschine, was für ein komischer Gedanke.
»Das ist vermutlich nur ein vorübergehendes Gefühl, das vom Heilungsprozess kommt. Der Organismus reduziert seine Aktivitäten auf das Wesentliche, Essen, Trinken, Schlafen … . Ich würde Ihnen jetzt gerne den Pyjama ausziehen und mir die Wunden am Rücken ansehen. Oder möchten Sie … ?«
»Nein, das ist schon okay.«
Große, weiße Knöpfe. Ein Krankenhauspyjama für Patienten, die nur ihre nackte Existenz dabei haben. Die Knöpfe lassen sich leicht öffnen. Der Patient schaut in die Luft, dann kurz auf meine aufknöpfenden Hände, dann wieder in die Luft. Ich schiebe die Decke noch etwas zurück. Weiße blanke Haut, keine Haare, die Rippen stehen hervor. Wie sehr sich sein Körper von dem von Matthias unterscheidet. Als wäre er nie richtig erwachsen geworden.
»Können Sie sich ein wenig aufsetzen?«
Er schließt die Augen, verzieht ein wenig das Gesicht. Ich halte ihn am Rücken, helfe ihm beim Aufrichten.
»Halten Sie sich hier am Griff fest.«
Der Ärmel des Pyjamas rutscht nach unten und gibt das Mal am Unterarm frei. Feine, schwarze Verästelungen … . Er wird sich nicht daran erinnern. Ich ziehe die Rückseite des Pyjama nach oben.
»Und jetzt bitte auf die Seite drehen, dann haben Sie es geschafft.«
Er dreht mir den Rücken zu, entblößt, die Wunde an der Schulter, der breite Striemen, der nicht vom Sturz gekommen sein kann. Ich taste den Umkreis der Wunde an der Schulter ab, erste Verkrustungen am Rand, das sollte genügen, aber … meine Hand fährt weiter, wie von selbst, nach unten, an die Seite, über den ganzen Rücken. Was tue ich da nur? Weiße, geschundene Haut, die Knochen, das Innere darunter. Ich muss aufhören damit, … dieser dünne, blasse Körper …, muss mich geradezu zwingen dazu …, den Pyjama wieder herunterziehen.
»Die Wunden am Rücken fangen auch bereits an zu heilen. Wenn der Heilungsprozess so positiv weiter verläuft, können wir die Dosis des Schmerzmittels Ende der Woche reduzieren. Jetzt dürfen Sie sich wieder auf den Rücken drehen. Danach helfe ich Ihnen noch auf die linke Seite, damit der Rücken entlastet wird.«
Die Wunden am Rücken hätte ich auch scannen sollen, aber das … muss jetzt so gehen. Den Pyjama wieder zuzuknöpfen ist etwas mühsam. Das Pflegepersonal hat dafür einfach geübtere Hände.
»Tut mir leid, dass ich Sie vorhin so angestarrt habe, Frau Doktor. Ich weiß auch nicht was … .«
»Das ist nicht schlimm. Manchmal glaubt man einfach Dinge zu sehen, die in Wirklichkeit gar nicht da sind.«
Und manchmal gibt es Dinge, die man lieber nicht sehen würde: Patienten, die nicht auf IVa sein sollten. Trotz anderslautender Informationen.
»So, jetzt noch der letzte Knopf und dann … eine leichte Drehung auf die linke Seite. Sehr gut. Den Sensor lege ich Ihnen hier auf den Beistelltisch, falls sie jemanden rufen möchten.«
Der amnesische Patient legt wieder die Hände unter den Kopf, aber seine Augen schauen, anders als gestern, nicht ins Leere.
»Wann werden Sie wiederkommen Frau Doktor?«
»Zur Abendvisite. Wenn Sie vorher schon etwas brauchen oder mir sagen wollen, wenden Sie sich einfach an Schwester Nelly. Sie gibt mir dann Bescheid. Und morgen verlegen wir Sie vielleicht schon auf eine andere Station.«
»Werden Sie mir dort auch weiter beim Wiedererinnern helfen?«
»Wir alle werden Ihnen weiter dabei helfen. Und jetzt ruhen Sie sich ein wenig aus.«
Ich schaue nicht mehr zurück, schließe leise die Tür, den PMA, ja, unter dem Arm. Emilio muss sich geirrt haben. Dieser Patient gehört nicht hierher, er ist anders … . Ich muss umgehend die Verlegung veranlassen. Der Flur fliegt an mir vorbei, die Stationstür braucht unendlich lange, bis sie sich öffnet. Aus Zimmer 325 kommt Daniel heraus, er möchte mit mir sprechen wegen Herrn Incelek, aber ich habe jetzt keine Zeit, er solle doch in einer halben Stunde in mein Büro kommen, Martin bemerkt mich erst, als ich schon am Stationsdesk vorbei bin, die Tür zur Stationsleitung öffnend. Ich darf keine Zeit verlieren.