DIE MUSCHI

Ich muss erstmal so schnell wie möglich von hier weg. Aber nicht rennen, das zieht Aufmerksamkeit auf sich. Vor allem nicht so, als würde man dem Irrsinn entfliehen. Zügig, aber nicht überhastet gehen, mehr gibt meine Kondition auch gar nicht her. Ich sollte in Zukunft mehr Sport machen und gesünder essen.
Die in der Klinik werden nach mir suchen, ohne Frage, nach der Person, die einem Arzt eine Spritze in den Hals gerammt hat. Womöglich haben sie Kameras dort installiert. Dagegen macht man sich am besten unsichtbar, in einer großen Menge von Menschen. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Welche Möglichkeiten habe ich? Links den Hauptbahnhof, vorne den Schillerplatz. Zum Hauptbahnhof muss ich die Alicenstraße runterlaufen, die ist vierspurig, da kann sofort ein Krankenwagen vorbeikommen und mich einsammeln. Also besser zum Schillerplatz, da vorne sind die Treppen, über die man doch von hier runter an den Altstadtrand und von dort auf den Schillerplatz kommt. Hinter mir … fährt ein Wagen aus der Tiefgarage und … biegt nach links in die Terrassenstraße – in die andere Richtung – ein. Sonst ist niemand zu sehen. Und gleich bin auch ich aus dem Sichtfeld verschwunden, Stufe um Stufe.
Da vorne fahren schon die Straßenbahnen. Niemand merkt mir etwas an, nicht die ältere Frau mit den Einkaufstaschen und auch nicht der Typ, der mich gerade überholt hat. Vermutlich will er noch schnell zur Straßenbahn. Sie ahnen alle nicht, was sich mitten unter ihnen in der Stadt befindet. Aber sie werden es erfahren.
Die Straßenbahnen fahren an und ab, Menschen steigen ein und aus. Ich bin jetzt einer von ihnen. Zwei junge Hip-Hoper bleiben am Gamestore stehen, sie tragen Kapuzenpullis wie ich, nur ich … ich habe noch eine rote Umhängetasche darüber. Ein roter Fleck auf weißem Grund, den man schon von weitem erkennen kann. Das muss ich sofort ändern. Die Bank da drüben sieht geeignet dafür aus, etwas abseits Richtung Ballplatz, aber nach allen Seiten offen.
Gilt es als mildernde Umstände, wenn ein Täter die Sachen seines Opfers sorgsam aufbewahrt? Vielleicht, jedenfalls scheint nichts zu fehlen, Geld, Handy, Tampons, Ausweis … hat der sich nicht einmal dafür interessiert, wen er da gefangen gehalten hat? Das ist nicht besonders rational … und der Schraubendreher, für alle Fälle. Die Tasche muss ich einfach nur umstülpen, das Innenfutter ist grau, grau … wie sagt man … wie alle Katzen in der Nacht. Das sollte reichen. Es gibt jetzt zwar nur noch ein Fach für alles, aber damit komme ich klar. Den Schraubendreher lege ich ganz nach unten, Chrom-Molybdän-Stahl … mit genügend Kraft angesetzt, könnte ich mir damit von oben nach unten den Arm aufritzen, bis zu dem dicken weißen Pflaster, dass die Einstichstelle verdeckt. Den Einstich spüre ich noch, aber alles andere … ist wie ausgelöscht. Das Pflaster klebt widerspenstig an der Haut. Das geht nur mit einem Ruck. Früher hätte ich es quälend langsam abgeknippelt, aus Angst vor dem Schmerz, doch der kommt nicht, nicht einmal eine Andeutung davon. Uhh, die Haut brennt für einen Moment, das Pflaster hängt zur Seite und gibt die Einstichstelle frei. Was hat mir der irre Doktor bloß gespritzt? So etwas wie Seelenfrost? Ich spüre wirklich nichts mehr, nicht einmal mehr die Panik darüber – die Gefühle zweiter Ordnung. Was ist das für eine Substanz, die all das abstellen kann? Wahrscheinlich hemmt sie Rezeptoren oder Transmitter. Für eine gewisse Zeit. Dann wird ihre Wirkung wieder nachlassen. Das ist so bei allen Substanzen. Der Einstich ist perfekt. Kein Bluterguss, nichts, nur das kleine Loch, das die Nadel in Haut und Ader gestochen hat. Doch auch wenn er perfekt ist, ist er illegal. Man hat so etwas umgehend der Polizei zu melden, dem Gesetz. Und ich weiß darüber hinaus, wo Peter Endlich ist. Das wird besonders Kommissarin Gruber interessieren, Manuela, ihr Fall. Ich muss sie umgehend kontaktieren.
Ihre Nummer hatte ich bereits ins Handy gespeichert. Aber es gibt keinen Mucks von sich. Wahrscheinlich ist der Akku leer. Kein Wunder, wenn es die ganze Zeit eingeschaltet gewesen ist. Also muss ich jemanden nach dem Polizeipräsidium fragen. Wo sollte Gruber, Manuela auch sonst arbeiten. Da der ältere Herr, der gerade vorbeigeht, könnte das wissen.
»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich das Polizeipräsidium finde?«
Er fährt sich mit den Fingern über die schlaffe Wange.
»Also lassen Sie mich mal überlegen … .«
Warum sagt er mir das? Das ist doch völlig irrelevant. Ich muss ihn darauf hinweisen, durch die Blume. Älteren Menschen gegenüber hat man höflich zu sein.
»Das verstehe ich, aber wie sie darauf kommen, war nicht meine Frage.«
»Wie?«
Er schaut mich mit verwirrtem Blick an, Tränensäcke, buschige Augenbrauen.
»Das Polizeipräsidium.«
»Das versuche ich ihnen ja gerade zu erklären, junge Frau.«
Tut er nicht.
»Also früher waren die ja in der Neustadt und sind dann … .«
»Das mag historisch bestimmt interessant sein, doch ich muss wissen, wo es heute ist.«
»Jaja, die haben jetzt ein neues Gebäude da am Zollhafen, beeindruckend, wissen Sie, das … .«
»Sehr nett, vielen Dank.«
Am Zollhafen also. Der ist … hinter der Grünen Brücke, bestimmt ein halbe Stunde zu laufen. Das ist zu lange, dort muss auch ein Bus hinfahren, die Rheinstraße entlang. Am Schillerplatz fahren nur die Straßenbahnen und die Busse zum Bahnhof ab. Die nächsten Haltestellen sind … Münsterplatz oder Höfchen. Das Höfchen kann ich von hier aus schon sehen. Viele Menschen mit Einkaufstaschen, das ist gut zum Unsichtbarbleiben. Und Menschen, die über Fußgängerampeln strömen. Ich ströme mit.
Auf der Gegenseite das neue Kaufhaus. Vorgestern kam es mir vor wie ein flirrender Glaspalast, Licht brach sich prismenartig. Jetzt ist es ein Gebäude aus gebogenem Stahl, Glas und Beton. Ohne fiebrige Aura. Und hinter mir schweift der Blick die Sichtachse entlang bis hoch zur Kupferbergterrasse. Dort wird die illegale Spritzerei demnächst ein Ende haben.
Der Linienplan ist eine wichtige Fahrgastinformation. Warum stellen sich die Leute davor, ohne darüber nachzudenken? ›Entschuldigung, darf ich mal.‹ Die vom Zollhafen nächstgelegene Haltestelle ist der Feldbergplatz. Dort halten 70 und 9 und die 70 fährt … hier über Höfchen, in … 3 Minuten, sagt die Anzeige, sehr gut. Davor kommen noch 62 und 90. Die Menschen bilden unförmige Klumpen vor den Einstiegstüren. Das ist völlig widersinnig. Würden sie sich im Reisverschlussverfahren aufstellen ginge es viel schneller. Null Minuten, die 70 fährt ein. Wieder ein Klumpen. Der Klumpen schiebt mich langsam zum Einstieg vor. Ich bleibe vor dem Busfahrer stehen, sage ›Guten Tag‹ und eine ›Fahrkarte bitte‹, der Busfahrer sagt nichts und tippt mit seinen dicken Fingern auf dem Kartenautomat herum. Das ist unhöflich. Die anderen Fahrgäste stören sich nicht daran. Dann sage ich in diesem Fall auch besser nichts. Ich darf hier jetzt nicht auffallen. Enger Raum. Der Busfahrer schiebt meine Münzen in die Münzschlitze, die Fahrkarte darf ich mir selbst aus dem Automat zupfen. Das nächste mal, wenn alles wieder normal ist, werde ich ihn darauf hinweisen, dass Höflichkeit auch Teil seines Jobs ist, nicht nur stumpf im Kreis herumzufahren. Ich setze mich an einen Fensterplatz, ziehe die Knie an und die Kapuze ins Gesicht. Häuser ziehen vorbei, einfach nur Häuser, am Brand, nächste Haltestelle Rheingoldhalle, die Rathausterrasse über uns, Betonplatten, der Rhein zwischen den Platanenreihen, Kaisertor, wieder Menschenklumpen, eine Frau will sich neben mich setzen, nächste Haltestelle Feldbergplatz, ich informiere sie darüber, dass ich da aussteigen müsse, sie scheint das verstanden zu haben, wartet, bis ich aufgestanden bin, der Bus bremst. Zwei andere Fahrgäste gehen auch zur Tür. Ich lasse sie zuerst aussteigen. Hinter mir verlässt niemand mehr den Bus. Er fährt wieder sirrend an, Autos dröhnen an ihm vorbei, vierspurig. Die beiden anderen Fahrgäste gehen die Grüne Brücke hinauf. In Richtung Zollhafen ragt hinter den Wohnhausreihen ein dunkles Gebäude empor. Das könnte das Polizeipräsidium sein. Ich gehe die Stufen zum Feldbergplatz hinunter, die Vierspurigkeit vermeidend.
In der Mitte des Platzes spielen Männer Boule. Die Kugel fliegt in einem großen Bogen über das Feld und schlägt auf einer liegenden Kugel auf. Beides kann man berechnen: Bogen und Aufschlagimpuls. Der Werfer hat das nicht getan – und hat trotzdem getroffen. Sonderbar. Am Spielfeld kann man links und rechts vorbeigehen. Einige Meter vor mir führt ein breitschultriger Glatzkopf seinen Hund spazieren. Der Hund sieht aus wie ein fleischfarbener Torpedo auf vier kurzen Beinen.
Torpedohund und Glatze bleiben stehen, der Hund hebt seinen dürren Schwanz steif wie einen Stecken, geht mit seinem Hinterteil in die Hocke und … drückt zitternd eine Ladung Hundekot heraus. Ich bleibe auch stehen und warte, bis das Geschäft fertig ist und der Glatzkopf den Kot seines Hundes aufhebt. Das Geschäft ist fertig, aber … die beiden trotten einfach weiter. Das geht nicht. Das ist unhygienisch und rücksichtslos. Man tritt hinein und verteilt die ganzen Fäkalkeime im Auto und in der Wohnung. Die Glatze trägt eine Art Bomberjacke und Springerstiefel. Vor solchen Typen hält man beim Zurechtweisen besser eine Armlänge Abstand. Oder noch ein wenig mehr.
»He, Glatzkopf! Die Scheiße von Deinem Köter hebst Du gefälligst auf!«
Die Glatze bleibt abrupt stehen und dreht sich dann langsam zu mir um. Knopfaugen funkeln mich aus einem breiten, feisten Gesicht an. Er sagt nichts, stattdessen beugt er sich zu seinem Hund herunter, nah an dessen Ohr. Ich sehe den Kopf des Hundes jetzt im Profil, er hat die Form eines überdimensionierten Spaltkeils. Ein Bullterrier, ein Kampfhund.
»Hast du gehört Rex, was die Muschi gerade gesagt hat, der gefällt es nicht, wie du dein Geschäft machst.«
Das stimmt so nicht.
»Wie dein Köter sein Geschäft macht, ist mir völlig egal. Aber du hast den Scheiß gefälligst aufzuheben!«
Die Glatze schaut kurz wieder zu mir auf, spricht aber unlogischerweise mit ihrem Hund weiter.
»Das glauben wir nicht, oder Rex?«
Jetzt macht er etwas an der Verbindung von Halsband und Leine, er … macht den Hund von der Leine los. Auch das darf er nicht. Warum hält sich hier niemand an die Regeln?
»Sieht so aus, als müssten wir der Muschi etwas Anstand beibringen.«
Das sagt gerade der Richtige. Und wie will er mir … mit dem Hund etwa? Warum nicht. Die Kieferknochen beißen sich an allem fest, was weicher als Kruppstahl ist. Vorzugsweise im Gesicht.
Wenn er das ernst meint, welche Chancen habe ich?
- Weglaufen: schlecht
- Um Hilfe rufen: schlecht
- Nichts tun: schlecht
- Verteidigen: einzige Möglichkeit, aber wie?
- Ringkampf: schlecht
- Waffe: okay, aber was ist in Reichweite? Nichts … außer 20 cm Chrom-Molybdän-Stahl
Meine Hand fährt in die Umhängetasche und umfasst den Schraubendreher. Wohin damit stoßen? In die wundeste Stelle … in das Zerfleischungsorgan selbst. Ich muss treffen. Präzise. Und zum richtigen Zeitpunkt. Sonst zerbeißt er mir das Gesicht. Die Boulemänner habe aufgehört zu spielen. Sie starren zu uns herüber. Das ist unterlassene Hilfeleistung, Jungs. Die Glatze zischt:
»Fass!«
Er meint es ernst. 60 Kilo reinstes Muskelgewebe rennen los. 60 Kilo weibliches Mischgewebe machen einen Ausfallschritt, das Gesicht wie eine Zielscheibe nach vorne beugend. Kleine, böse Hundeaugen rennen auf mich zu, der Spaltkopf schon aufgerissen, sabbernd, Zähne wie Stahlzacken. Ich ziehe den Ärmel über die Faust. Es wird weh tun, sehr weh. Zwei Sätze, ein Sprung, was für eine Muskelmaschine, klinkt den Kiefer aus, zielt auf mein Gesicht, jetzt!
Arm und Schraubendreher stoßen in den Hunderachen. Der Einschlag reißt zuerst mein Gesicht und dann meinen ganzen Körper zur Seite. Ein Meer von Stahlzacken schlitzt über meinen Unterarm. Pappelwipfel stürzen vorüber. Ich schlage hart auf. Die Luft bleibt weg, ich bekomme keine Luft mehr! Mein Arm verdreht sich schützend über mein Gesicht. Am Schraubendreherarm sickert warme Flüssigkeit ein. Er steckt in irgendetwas fest, in Fleisch, Gewinsel, Gestank, fleischiger Gestank, schweres Gewicht liegt auf meiner Brust, es zappelt, scharrt schwach mit etwas, mit kurzen Beinen. Der Hund liegt auf mir, Blut und Sabber laufen aus seinen Lefzen auf meinen Arm, Oberarm, der Unterarm steckt im Hunderachen, die Hand badet in warmer, zäher Flüssigkeit. Sie ist wie verwachsen mit dem Griff des Schraubendrehers. Mit dem Hundeblut beginnt Schmerz mich zu fluten, ich schwimme in Schmerz, stumm, ohne zu schreien, der Schrei, ein Gewinselschrei kommt vom Hund, sein Körper zuckt auf mir, kurz, dann wird er starr. Tot. Und ich lebe. Mit Gesicht. Mit Schmerz überall.
Aber ich darf nicht im Schmerz ertrinken. Was der Hund nicht geschafft hat, wird die Glatze tun, sie wird mich tottreten. Meine Augen sind bleischwer, ihr Blick müht sich am Hundekadaver vorbei in Richtung Glatze. Die Glatze steht wie angewurzelt da.
Plötzlich hebt sie den rechten Arm empor, reißt den Mund auf. Der Mund ist ein dunkles Loch im Himmel. Ein schriller Schrei bricht daraus hervor. Der rechte Arm sinkt herab und deutet auf mich.
»Die Schlampe hat meinen Rex umgebracht!«
Der Schrei hallt wider, vielfach. Die Boulemänner zeigen auf mich, zwei Typen auf einer Parkbank erheben sich und zeigen auf mich, ein Frau mit Kinderwagen dreht sich um und zeigt auf mich. Was ist das? Halluzinationen aus dem Schmerzenssee? Sie kommen und deuten auf mich aus allen Richtungen. Etwas packt mich von hinten, an der Schulter, eine Eisenfaust. Ist das schon einer von denen? Ich versuche nach hinten zu schlagen, da zischt eine Stimme:
»Los, weg hier!«
Ich drehe irgendetwas von meinem Körper nach hinten, sehe rosa Stoff, hautengen rosa Stoff, hautenge rosa Hosen, Laufhosen, darüber ein gerötetes, männliches Gesicht.
»Leschinski … .«
»Das weiß ich. Und du bist Sabine. Die tief in der Scheiße steckt.«
»Ich kann nicht so einfach weg.«
»Wieso?«
»Mein Arm steckt noch im Hund.«
Bunte Laufschuhe treten mit Wucht gegen den Hundekopf. Etwas knackt. Die Kiefersperre lockert sich, ich kann so etwas wie einen Arm bewegen, ziehe ihn heraus, mit dem Schraubendreher, er gehört zum Arm. Alles ist rot, verschleimt, vergewebt und stinkt. Der Ärmel des Kapuzenpullis zerfetzt. Hund- und Menschenblut mischen sich darin. Leschinski tritt den Hund zur Seite und zieht mich in die Höhe. Ich baumle, hallo Gliederpuppe.
»Kannst du laufen?«
»Was ist ›laufen‹?«
»Dann los, hier entlang, schnell!«
Leschinski packt mich am Arm. Meine Beine machen irgendetwas. Ich stolpere hinter ihm her. Auf einen gläsernen Eingang zu. Treppen, Leschinski schleift mich Treppen hinunter. Eine rote Tür, P3, Leschinski tritt sie auf, ich schlage mit dem Arm dagegen, die Hölle fällt auf mich herab, Autos in der Hölle, verdammt viele Autos, Leschinski läuft zwischen ihnen entlang, irgendetwas fiept, Lichter blinzeln.
»Hier, steig ein.«
Wir stehen vor einem schwarzen Phallus aus gebogenem Blech.
»Was ist das?«
»Mein Auto, ein Audi TT.«
Mit so etwas fahre ich nicht.
»Das ist ein Zuhälterauto!«
»Das ist bitte was? Bist du jetzt ’ne Anstandsdame oder sowas?«
Türen schlagen irgendwo, hallen, Schritte viele Schritte, eine schrille Stimme:
»Da sind sie!«
Leschinski zucken die Halsmuskeln.
»Also, was ist? Zuhälterauto oder Fleischwolf?«
Er meint: Moral oder Existenz? Keine einfache Entscheidung. Wenn wir unsere Moral verlieren, unsere Regeln, dann … . Leschinski entgleisen die Gesichtszüge. Warum? Das muss doch wohl abgewogen werden. Er flitzt um den Phallus herum, reißt die Tür auf und schiebt mich auf den Beifahrersitz. Also Existenz.
Der Phallus-TT hat nur ein halbes Lenkrad, mit vielen Knöpfen und Schaltern darauf. Leschinski drückt und schaltet einige von ihnen. Etwas röhrt, der Raketenantrieb. Der Belag des Höllenparkhauses ächzt unter dem Anschub. Ich werde in den Sitz gedrückt. Die Autoreihen rasen rechts und links an uns vorbei. Und wenn einer ausparkt? Das ist gefährlich. Vor uns ist etwas wie … eine Rampe. Wir heben kurz ab, schlagen wieder auf. Mein Magen tanzt in meinem Hals. Leschinski beschleunigt weiter, auf einen Ausschnitt Licht zu, vor dem Lichtausschnitt liegt … eine Schranke quer. Was macht er da? Das ist physikalisch gesehen unklug. Er hält voll darauf zu … .
»Leschinski … !«
… und reißt jetzt das Steuer herum, ich falle in die Mittelkonsole, sehe von dort ein schiefes Grinsen.
»Geheimer Seitentunnel. Das Parkhaus ist ein Labyrinth. Aber ich kenne es wie meine eigene Westentasche. Bist du etwa nicht angeschnallt?«
»Ich lehne Gurte aus feministischen Gründen … .«
Er drückt einen rosa Knopf. Zwei Gurte peitschen um meine Schultern.
»Geil, wa? Ideal zum Frauenabschleppen.«
»Wenn ich es recht überlege, ziehe ich doch den Fleischwolf vor.«
»Zu spät, die werden uns nie kriegen, die verdammten Snatchers.«
»Die verdammten wer?«
»Snatchers, Andersartigkeitsfresser. Aber nicht mit Leschinski. Nicht mit der EDGE.!«
Was faselt er da? Ist das so ein Bandending? Hier in der Stadt?
Er schiebt einen Schalter nach unten. Wir nähern uns Lichtgeschwindigkeit. Einmal rechts, einmal links. Mein Magen hüpft die Kehle empor. Ich möchte nicht, dass dieses Wort aus meinem Mund kommt, aber es kommt.
»Leschinski, kannst du nicht … ich muss gleich kotzen.«
»Runterschlucken. Uuund festhalten.«
Der Lichtgeschwindigkeitstunnel wird breiter und weitet sich zu einem weiteren Fahrzeugdeck. Leschinski haut auf das halbe Lenkrad. Der Phallus-TT bremst von Lichtgeschwindigkeit auf null. Die Frauenabschleppgurte verhindern, dass ich wie ein Pfeil durch die Windschutzscheibe schieße. Aus hervorquellenden Augen sehe ich Autos übereinandergestapelt. Ein Autostapel mit der Nummer 216 3 84 bewegt sich nach oben, der Phallus-TT fährt darunter. Wir versinken in einem schwarzen Loch. Über uns sirrt Hydraulik. Lichtleisten leuchten auf. Die Autotüren öffnen sich.
»Bitte steigen Sie aus.«
Leschinski stößt Luft aus wie ein kaputter Blasebalg.
»Die hätten wir abgehängt. Darf ich bitten.«
Meine Frauengurte lösen sich wie von Geisterhand aus dem Verschluss.
»Bitten, wozu?«
Etwas fährt der Lichtleiste entgegen. Ein Fahrstuhl.
Leschinski deutet darauf.
»Meine Wohnung.«
Die Schmerzen schließen sich wie eine zweite Haut um meinen Körper.