KÖRTZ

Frank hat seinen Wagen unübersehbar über die halbe Breite des Waldwegs geparkt. Versteckt dahinter steht ein alter, mintgrüner VW Passat. Das muss Walthers Wagen sein. Daneben beginnt eine baumlose Fläche, auf der die beiden erwähnten Bauwagen stehen. Dann heißt es mal wieder aussteigen und durchs Grünzeug stapfen. Warum können Frank und der Sozialheini das nicht alleine regeln? Was ist so schwierig daran, ein paar Penner zur Räson zu bringen? Wenigstens ist das Grünzeug nicht so hoch wie da oben, wo die Vespa gelegen hat. Mehr so tote Äste. Und die Baumstümpfe dazu.
Die beiden Bauwagen stehen Rücken an Rücken, als hätte man sie miteinander verbunden. Ein Gruppe Obdachloser sitzt um die Bauwagen herum. Jeder in der Gruppe ist mit etwas beschäftigt. Etwas abseits davon steht Frank mit einem Typ, der vermutlich Walther ist. Frank hat meine Ankunft bereits bemerkt, sagt etwas zu Walther und geht mir, durch die toten Äste staksend, entgegen.
»Was ist denn das für eine Veranstaltung?«
»Das würde ich auch gerne wissen. Walther hat mich vor gut einer Stunde angerufen, weil er einen Obdachlosen vermisst und er einen Hinweis bekommen hat, dass ihm möglicherweise etwas zugestoßen sei.
»Was für ein Hinweis?«
»Ein Zettel in seinem Briefkasten. Darauf steht, er solle sich die Bauwagen hier mal näher ansehen. Doch die sagen, sie wüssten von nichts. Kumpels kämen und gingen, so wäre das nun mal.«
»Da haben sie wohl nicht ganz unrecht.«
»Für Walther gibt es aber einen Unterschied zwischen Gehen und Verschwinden. Außerdem verweigern sie ihm den Zutritt zu den Bauwagen. Der ›Wächter‹ da hat ihm einen Schlag mit dem Baseballschläger verpasst.«
»Autsch. Was Schlimmes?«
»Nein, eine kleine Platzwunde. Nicht der Rede wert.«
Somit hätten wir also: Einen Zettel, einen Baseballschläger und eine Beule am Kopf eines Sozialarbeiters. Was soll das? Soll sich doch das Ordnungsamt drum kümmern.
»Und warum sind wir dann hier?«
»Um uns den Bauwagen mal näher anzusehen.«
»Du bist Polizist, du kannst dir Zutritt verschaffen.«
»Ist nicht ganz so einfach, komm.«
Wir staksen zu Walther hinüber. Er trägt einen olivgrünen Kapuzenpulli, schlabbrige Jeans und so ein Autonomenhalstuch. Es gibt Kleidungsstücke, die ich mehr mag. Die Haare sind kurz geschnitten und formlos gegeelt. Ordentlich getrimmte Kotletten laufen die fleischigen Wangen herunter. Auf der Stirn, nahe am Haaransatz klebt ein Pflaster, die besagte Platzwunde. Ein Streifen verkrusteten Bluts zieht Richtung Schläfe. Sieht schlimmer aus, als es tatsächlilch zu sein scheint. Frank stellt uns einander vor: Kriminalkommissarin Gruber, Michael Walther vom Streetworkernetzwerk. Walther gibt mir die Hand, freut mich, ich freue zurück. Kein schlechter Händedruck. Aber … .
»Sie sind nicht vom Sozialdezernat?«
»Nein, von denen hat man schon seit Jahren keinen mehr hier draußen gesehen. Die kümmern sich nur noch um ihr Auftragscontrolling. Die eigentliche Arbeit vor Ort machen Organisationen wie wir. Bisher.«
»Bisher?«
»Unser Vertrag wurde vor gut einem Jahr nicht verlängert. Angeblich gab es einen günstigeren Anbieter.«
So ist das eben. Nur was macht er dann überhaupt hier? Ich frage ihn. Aber er antwortet nicht. Stattdessen nickt er zu den Bauwagen hinüber.
»Schauen sie sich das an. Vor einem Jahr, als die Bauwagen noch nicht hier standen, müllten sie den ganzen Platz mit Flaschen, Dosen und ihren Lumpen zu. Wegen einem Tropfen Schnaps schlugen sie sich fast den Schädel ein. Und jetzt?«
Ist nichts mehr davon zu sehen. Der Platz ist sauber aufgeräumt. Keiner brabbelt oder keift den anderen an. Einer lässt aus einem Schlauch am hinteren Ende der Bauwagen Wasser in eine große Schüssel laufen. Geschirr klimpert. Zwei andere sitzen um einen kleinen Feuerplatz und starren in die erloschene Glut. In der Nähe des rechten Bauwageneingangs schnitzt eine schrumpelige Frau an einem dicken Ast. Direkt vor dem Eingang steht eine Art Gorilla. Bucklig. Er hält einen Baseballschläger in der Hand. Das ist wohl der Wächter, der Walther die Beule verpasst hat.
»Vielleicht macht der neue Auftragnehmer einen besseren Job.«
»Vielleicht.«
Walther schaut nachdenklich durch seine dickrahmige Brille. Das ›Vielleicht‹ klang wenig überzeugt.
»Aber nicht alles sieht so fein aus wie hier.«
»Wie meinen sie das?«
»Wenn man jahrelang die gleichen Obdachlosen betreut, ist der Kontakt ja nicht gleich von heute auf morgen weg. Einige haben Angst. Andere sind ganz verschwunden. Wie Starbuck. Wegen dem ich hergekommen bin.«
Starbuck? Ist das nicht dieser … aus dieser Weltraumserie, von der Endlichs gesprochen haben. Bedeutet das vielleicht … ? Der Wald vibriert unmerklich. Die Bäume rücken auseinander. Schaffen Raum. Ein Vogel flattert von einer Baumkrone auf, schreit und stürzt sich in den endlosen, siedendblauen Himmel. Wie Starbuck. Peter Endlich. Jetzt der Obdachlose. Ein Räuspern an meiner Seite. Frank. Der Himmel fällt in sich zusammen.
»Manu? Ist irgendetwas?«
Ja, irgendetwas ist. Im Unterbewusstsein. Oder eine Erkältungshalluzination.
»Nein, nichts, ich dachte nur gerade … seit wann, seit wann ist er denn verschwunden, dieser ›Starbuck‹?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Er hat die neue Betreuungsfirma vermieden und wollte sich vorgestern … mit mir treffen. Aber er kam nicht. Dafür lag dieser Zettel in meinem Briefkasten. Ihr Kollege … .«
»Und sie glauben, dass an diesem ›Zettel‹ etwas dran ist.«
»Es gibt nichts anderes. Und nachdem man mir deutlich gezeigt hat, dass ich nicht willkommen bin.«
»Schön, was schlagt ihr also vor?«
»Wir müssten in die Bauwagen rein. Könnte sein, dass sie darin etwas verbergen. Ist aber wie gesagt nicht so einfach. Sie versperren den Weg. Sobald jemand auf den Eingang zugeht schwingt der bucklige Gorilla seinen Baseballschläger.«
»Mit dem werden wir schon fertig.«
»Das ist es nicht. Wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl.«
»Wieso das denn?«
»Die Stadt hat den Obdachlosen unbefristete Nutzungsrechte für Platz und Wagen übertragen. Sie können da nicht einfach so reinmarschieren. Das wäre Hausfriedensbruch.«
Nach dem Wald gerät jetzt auch der seidene Faden der Geduld in Schwingung. Der Eingang des linken Bauwagens ist mit Holzbrettern zugenagelt worden. Bleibt also tatsächlich nur der Weg an dem buckligen Gorilla mit dem Baseballschläger vorbei.
»Lassen Sie mich mit ihnen reden. Vielleicht verhalten sie sich einer Frau gegenüber nicht so feindselig. Sie haben nicht zufällig ein Foto von ihrem Schützling?«
»Nein leider nicht.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Hmmm, also … .«
»Groß, klein, dick, dünn?«
»… sehr schlank, so etwa einsfünfundachtzig groß, kurze hellblonde Haare.«
Frank und ich schauen uns an. Gleiche Gedanken. Wenn die Bauwagen negativ sind, wird es für Walther noch eine nächste Station geben.
Ich gehe auf die Bauwagen zu. Die Obdachlosen lassen von ihren Beschäftigungen ab und beobachten, wie ich auf sie zukomme. Der Typ an der Spülschüssel dreht das Wasser ab. Die zwei vor der erloschenen Feuerstelle erheben sich. Die schrumpelige Frau mit Ast und Schnitzmesser stößt sich vom Wagen ab. Der bucklige Gorilla strafft seinen massigen Körper, er hat bemerkt, dass ich auf ihn zukomme. Mal sehen, ob sich etwas verhandeln lässt - obwohl das noch nie meine Stärke gewesen ist.
»Guten Tag, ich bin Kommissarin Gruber von der Kripo Mainz. Einer Ihrer Kollegen ist verschwunden. Ich möchte mich nur vergewissern, dass er sich nicht da drin befindet.«
»Behauste kommen hier nicht rein.«
Tiefes Knurren. Er scheint mir nicht mal zuzuhören. Die wulstigen Augen haften auf mir wie Magnete. Keine guten Voraussetzungen, um etwas auszuhandeln. Und wenn ich mich nicht davon abhalten lasse? Der Gorilla hebt den Baseballschläger drohend in die Luft. Damit sind die Verhandlungen endgültig beendet. Schneller als er ›Papp‹ sagen kann, ziehe ich die Dienstpistole und halte sie ihm zwischen die Augen.
»Stöckchen runter oder ich puste Dir dein Hirn weg!«
Der Gorilla erstarrt vor Schreck. Seine Wulstaugen weiten sich zu runden, rot geäderten Murmeln. Im Hintergrund schnappt Walther nach Luft. Frank ruft: »Manu! Was zum Teufel … .« Dann knacken Äste auf dem Boden in schnellen Folgen. Gleich wird er mich am Arm packen, ich bereite eine abwehrende Bewegung vor, als plötzlich eine Stimme aus dem Inneren des Bauwagens schnarrt:
»Lasst die Furie in Gottes Namen herein.«
Der Gesichtsausdruck des Gorillas wechselt von Schreck zu Gehorsam. Er lässt den Baseballschläger, den er wie eingefroren in der Luft gehalten hat, langsam nach unten sinken. Eine weise Entscheidung. Im Gegenzug nehme ich ihm die Pistole wieder aus dem Gesicht. Nur Frank scheint das noch nicht bemerkt zu haben. Er will mich am Handgelenk greifen.
»Bist du völlig … ?«
Doch das soll er bloß bleiben lassen. Ich mache eine abwehrende Bewegung:
»Alles unter Kontrolle, Frank. Ich gehe jetzt da rein.«
Der bucklige Gorilla nickt missmutig mit dem Kopf zur Bauwagentür hin. Freunde werden wir wohl keine mehr. Ich gehe die drei abgetretenen Holzstufen hoch, schiebe die Tür auf, ein abgedunkelter … .
»Lassen Sie Ihre Waffe bitte draußen.«
Die Stimme, die mich ›Furie‹ genannt hat. Ruhig ,tief, etwas belegt. Einen Teufel werde ich … .
»Warum sollte ich das tun?«
»Ich kann Sie nur bitten, auch als … Gast unsere Regeln zu respektieren: Unter anderem keine Waffen hier im Bauwagen.«
In der Abgedunkeltheit sind Gestelle an der Längsseite zu erkennen. Von einem davon kommt die Stimme.
»Schön, Respekt. Aber woher weiß ich, dass auch Sie sich daran halten. Da draußen fuchtelt einer mit einem Baseballschläger herum.«
»Jetzt wohl nicht mehr.«
»Gut, aber ich möchte zuerst einen Blick hier reinwerfen.«
»Bitte.«
Von der geöffneten Tür fällt ein wenig Licht in den Raum. Er ist größer, als man es von außen vermuten würde. Kerzen flackern am anderen Ende. Ihr unstetes Licht streift über eine Figur, die große … Flügel auszubreiten scheint. Der Rauch der Kerzen hängt in der Luft, sonst nichts. Kein stickiger, nach ausgedünstetem Alkohol stinkender Raum – wie so oft früher bei uns zu Hause. Das Widerliche war nicht der Alkohol selbst, sondern das, was der Körper daraus machte - diese Ausdünstungen. Erstaunlich … .
Die Gestelle links und rechts sind … Pritschen. Sie haben den Bauwagen mit Pritschen bestückt. Doppelstöckig. Beidseitig. Das Fenster auf der einen Seite ist mit einem schweren Vorhang abgedeckt. Auf einer der Pritschen gegenüber liegt ein massiger Körper. Er atmet schwer. Eine seltsame Ruhe geht von ihm aus. Wie von einem großen, verwundeten Tier. Okay, die Waffe. Aber ich muss die Situation im Auge behalten.
Frank steht noch immer wie angewurzelt ein paar Schritte vor den Obdachlosen. Ein bisschen Bewegung wird ihm gut tun.
»Frank, hier.«
Die Dienstwaffe fliegt einen kurzen, fast perfekten Bogen durch die Luft. Franks Hand schnappt sicher um den Griff zu. Überraschte Fänger sind oftmals die Besten. Er behält die Kontrolle da draußen, ich hier drin. Die Tür fällt mit einem Knarren ins Schloss. Der Raum ist wieder vollständig abgedunkelt.
»Setzen Sie sich bitte.«
Aus dem Fleischberg löst sich eine Hand und deutet auf einen Stuhl, der nahe bei ihm an der Pritsche steht. Ein wenig zu nahe für den Anfang.
»Wie wär’s mit etwas mehr Licht?«
»Sie fürchten sich im Dunkeln?«
»Im Dunkeln kommen die bösen Jungs.«
Er wälzt seinen Leib zur Seite. Ein Schalter klackt. An der Wand geht eine Lampe an. Dreckiges Glühbirnenlicht.
»Warum ziehen wir nicht einfach die Vorhänge zurück? Angst vor Tageslicht?«
»Nein, nur ein hundertfach erhöhtes Hautkrebsrisiko.«
»Keine guten Voraussetzungen, um auf der Straße zu leben.«
»Dafür gibt es keine guten Voraussetzungen. Aber sie sind vermutlich nicht gekommen, um das zu erörtern.«
›Erörtern‹, das ist nicht die übliche Pennerwortwahl. Aber das soll es ja öfters geben, als gedacht - Akademiker, die abstürzen. Und in selteneren Fällen nicht ihren Verstand versaufen. Die Wandlampe leuchtet kaum stärker, als die beiden Kerzen im Hintergrund. Aber es genügt, um die Lage einschätzen zu können. Bis auf den Platz, auf dem der Mann liegt, sind alle Pritschen leer. Ordentlich zusammengelegte Decken darauf. Die Skulptur mit den großen Flügeln sieht wie ein gedrungener Engel aus. Zu schwer um abzuheben. Davor ein Tisch, ein paar einfache Stühle. Sonst ist niemand im Raum.
»Nein, wegen einem ihrer Kumpel: Starbuck. Er ist seit vorgestern verschwunden.«
Der Mann richtet seinen mächtigen Körper auf. Er scheint Mühe zu haben sich zu bewegen. Der Kopf schiebt sich aus dem Halbschatten der Pritschen in das Halblicht der Wandlampe. Der Schädel ist kahl rasiert. Flecken laufen über das narbige Gesicht. Aknekrater. Er schaut mich mit müden, in fleischigen Höhlen liegenden Augen an. Das macht die Situation etwas kontrollierbarer. Die Straße setzt auch dem stärksten Körper zu. Ich schiebe mir den angebotenen Stuhl zurecht.
»Darf ich Ihren Dienstausweis bitte sehen.«
»Sie nehmen es aber genau.«
»Dafür sollten Sie als Polizistin Verständnis haben.«
Ich fummele den Ausweis aus der Jacke heraus. Warum haben sie die Taschen bloß so verdammt klein geschnitten. Jedesmal dasselbe. Halte ihn in den Schein der Wandlampe. Ein Raunen weht über seine Lippen:
»Dan-ke.«
Er muss früher eine beeindruckende Stimme gehabt haben. Jetzt kommt sie wie aus einer Höhle, die zum Teil eingestürzt ist. Die Worte bahnen sich ihren Weg durchs Geröll.
»Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Nennen Sie mich einfach Körtz. Der Rest ist in meiner ehrenwerten, früheren Existenz verlorengegangen.«
Wie?
»Körtz?«
Ich ernte ein zustimmendes Brummen. Dann macht er eine Geste mit dem Arm, dick wie ein Baumstamm.
»Wie Sie sehen, ist er nicht hier, Star-buck.«
»Ja, das sehe ich. Sie kennen ihn demnach?«
»Kennen? Was heißt das schon?«
»Können wir die philosophischen Erörterungen auf später verschieben?«
»Schade, ich könnte mir vorstellen, dass man sich gut mit ihnen über tiefgehendere Themen unterhalten kann.«
Er schaut mir geradewegs in die Augen. Erloschene Kohlen. Ein Glimmen darin. Draußen steigen wieder Vögel schreiend auf.
»Ich glaube, ich würde Sie eher enttäuschen.«
»Wie Sie meinen.«
Er legt sich wieder in den Halbschatten zurück. Atmet schwer aus. Schwer wie der Körper selbst.
»Starbuck … er war ein Einzelgänger. Er tauchte auf. Und verschwand wieder. Niemand wusste woher oder wohin. Und irgendwann blieb er ganz verschwunden. Aber das ist schon länger als zwei Tage her.«
»Aha, und zwar?«
»Etwa ein Jahr. Zu der Zeit, als man uns die Bauwagen hier zur Verfügung stellte.«
»Es gibt Aussagen, dass er vor wenigen Tagen noch in der Stadt gewesen sei.«
»Die Stadt ist groß. Hat einen Fluss, Brücken … .«
Das lässt sich nicht leugnen … dass die Stadt am Fluss liegt und Brücken hat. Und dass Walthers ominöser Zettel ins Leere gelaufen ist. Aber ausgerechent dieser Name, die unterschiedlichen Zeitspannen … .
»Haben Sie denn eine Idee, warum er, wenn er möglicherweise in der Stadt gewesen ist, Sie und die anderen … gemieden hat? Schließlich hätte er jetzt sogar ein Dach über dem Kopf.«
»Vielleicht gerade deswegen. Nicht jeder kann zurück. In den geschlossenen Raum.«
Und andere, wenn sie es nicht mehr aushalten, flüchten aus geschlossenen Räumen. Und stoßen dann eines Nachts mit denen zusammen, die nicht mehr darin zurückkönnen. Das Flackern der Kerzen legt sich über das Wandlampenlicht. Der Innenraum biegt und bricht sich mit den Flammenschatten.
»Wie … wie sah Starbuck eigentlich aus?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Wieso nicht?«
»Anthroamnesie. Teile meines Langzeitgedächtnisses sind geschädigt. Ich kann mich nach einer gewissen Zeit nicht mehr an das Aussehen von Menschen erinnern. Wenn wir uns nach einem halben Jahr wiedersehen würden, wüsste ich zwar, wer sie sind, aber ihr Aussehen müsste ich neu lernen. Tut mir leid.«
Haut, Hirn, Schmerzen - den Guten hat es ordentlich erwischt.
»Das ist natürlich … bedauerl … .«
Ein Hustenreiz breitet sich wie aus dem Nichts in den Bronchien aus. Ruhig atmen, ruhig … . Hilft nichts, ich belle ihn heraus, wie zur Bestätigung, Rotz hinterher. Verdammt, wo sind bloß die Taschentücher, links, rechts, diese scheiß kleinen Jackentaschen! Ah, hier.
»Erkältet, hmmm?«
»Finale Phase.«
Schneuzen. Der Geruch von Zellstoff.
»Aber lassen wir das.«
Schattenlinien flackern über die Pritschenwand. Schneiden sich. Streben wieder auseinander.
»Es gibt da noch etwas anderes, bei dem sie mir … behilflich sein könnten. Ist Ihnen hier in der Umgebung schon einmal eine rote Vespa aufgefallen?«
»So ein Motorroller?«
»Mmmmh.«
»Nein. Hat das etwas mit Starbuck zu tun?«
»Nicht direkt.«
Aber man kann einen Zusammenhang konstruieren. Muster. Linien, die sich schneiden. Die man nur unter bestimmten Umständen sieht.
»Wir haben die Vespa nicht weit von hier in einem Waldstück gefunden. Sie steht in Zusammenhang mit einem Unfall, der sich vorgestern Nacht vorne an der Straße nach Budenheim ereignet hat. Wissen Sie etwas davon?«
Der Leib liegt da. Reglos. Ein Fels. Der Erosion ausgesetzt. Was geht in ihm vor, dem Fels? Warum so lange?
»Man hört nachts immer wieder mal Sirenen … .«
»Aber nichts Konkretes. Ein Knall. Jemand, der um Hilfe ruft. Oder sich vielleicht sogar hierher schleppt?«
»Nein, nichts derart. Ein schlimmer Unfall?«
»Ein Toter. Ein Verschwundener. Der Verschwundene ist dieser Mann hier auf dem Ausweis.«
Körtz nimmt den Ausweis entgegen. Er stemmt sich wieder etwas nach oben, ins Halblicht. Seitlich an seinem Kopf klebt ein Pflaster. Eine Meinungsverschiedenheit mit seinem Gorilla? Die Augen verengen sich zu Schlitzen. Bei den Lichtverhältnissen … .
»Endlich, Peter? Nein, tut mir leid.«
»Aber Sie würden ihn schon erkennen, wenn … .«
»… es nicht länger als ein halbes Jahr her wäre.«
Er gibt mir den Ausweis zurück und senkt sich wieder auf die Pritsche ab. Damit sind die Untersuchungen beendet, soll das wohl heißen. Kein Befund, nichts. Bis auf die Tatsache, dass man einem Sozialarbeiter eine Beule verpasst hat. Das ist zwar kein Fall für die Kripo, aber immerhin leichte Körperverletzung.
»Noch kurz zu Ihrem Türsteher da draußen: Sie wissen, dass er sich strafbar macht, wenn er anderen seinen Prügel über den Kopf zieht.«
»Wir haben das gleiche Recht wie alle anderen Hausbesitzer. Menschen, die wir nicht im Wagen haben wollen, dürfen wir den Zutritt verweigern. Versuchen sie sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen, dürfen wir ein ebensolches Mittel anwenden. Sie wissen hoffentlich auch, dass Sie im Grunde Hausfriedensbruch begangen haben.«
Nur wenn man auf der falschen Seite steht.
»Wenn Sie sich in dieser Thematik so gut auskennen, kennen Sie bestimmt auch die Klausel ›Gefahr in Verzug‹. Der Verdacht eines Verbrechens, ein verletzter Sozialarbeiter, ein latent aggressiver Mob.«
Der Fleischberg schnaubt verächtlich. Warum muss er mir auch mit diesem Gewäsch kommen? Aber interessieren würde es mich schon.
»Warum lassen Sie eigentlich, wie der Kollege da draußen so schön sagte, keine ›Behausten‹ hier rein?«
»Weil wir … .«
Sein baumdicker Arm beschreibt einen Halbkreis im Raum.
»… diesen Raum hier von alldem freihalten wollen, was uns zutiefst gedemütigt hat: Von der Gesellschaft und ihren Werten. Wenn man von dieser Gesellschaft einmal ausgespuckt wurde wie Abschaum, hat man kein Interesse daran, ihre Mechanismen in irgendeiner Weise wieder zuzulassen. Besonders nicht in den eigenen Räumen. Wir bauen unsere eigene, kleine Gesellschaft auf. In der es wieder so etwas wie Achtung und Respekt gibt.«
»Und weisen damit auch die zurück, die Ihnen helfen wollen?«
»Sie meinen die Sozialdienste und all die anderen Pseudohilfs-organisationen? Die sind Teil des Problems, nicht der Lösung.«
»Und die neue Sozialfirma?«
»Es gibt keine neue Sozialfirma.«
»Und von wem kommen dann die Bauwagen?«
»Von einer privaten Stiftung, die anonym bleiben will. Von ihr bekommen wir, was wir brauchen, Unterkunft, Lebensmittel, medizinische Versorgung. Ansonsten lässt sie uns in Ruhe. Im Gegenzug stellen wir keine Fragen. So lautet die Abmachung. Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, müssen Sie sich an das Sozialdezernat wenden.«
Nein, das ist erstmal nicht notwendig. Wir sollten uns wieder auf unseren eigentlichen Fall konzentrieren. Dann war es das hier. Ich stehe auf. Eine dunkle Fläche im Augenwinkel. Der gedrungene Engel wirft, von der Wandlampe angeleuchtet, einen fast lebensgroßen Schatten hinter sich. Die Kerzen daneben, Pflanzen in einer Vase, eine Box, das sieht fast aus wie … ein Altar.
»Alles Gegenstände, die keiner mehr haben wollte. Schauen Sie sie sich ruhig an, wenn Sie möchten.«
Der Engel hat menschliches Aussehen. Eine Frauenfigur mit langem, schwarzem Haar. Aus Holz. Die Flügel sind große, bauschige Schwingen. Er steht auf einem Block. Darin ist etwas eingraviert, irgendwas lateinisches: El angel de las nubias. Die Pflanzen stehen in einer dunklen, dickbauchigen Vase. Sie riechen herb, selbst im Kerzenrauch.
»Ist das ein Altar oder sowas?«
»Nein, nur der Ort unserer täglichen Zusammenkunft. Ein Ritual. Das gibt uns Struktur.«
»Der Engel sieht sehr … lebensecht aus.«
»Ja, das hat uns auch einige Stunden Restaurierungsarbeit gekostet.«
»Selbst restauriert, nicht schlecht.«
In der Box neben den Pflanzen liegen Kassetten. Musikkassetten. So wie früher. Ein Abspielgerät dahinter. Die Musik zum ›Ritual‹. Diese geheimnisvolle Stiftung scheint in ihrer Unsichtbarkeit ganze Arbeit zu leisten.
Ich gehe zur Tür, verabschiede mich. Körtz schaltet die Wandlampe aus. Kurze Dämmerung. Dann bricht beim Aufziehen der Tür das Tageslicht über mich herein – gleißend hell für einen Moment. Die Konturen des Gorillas drei Stufen unter mir. Auch mit einem Pflaster auf dem kahlgeschorenen Kopf. Haben Sie sich etwa gegenseitig …? Egal, ich klopfe ihm auf die Schulter:
»War nicht so gemeint vorhin.«
»Selber«, brummt er zurück.
Was immer das auch bedeuten soll. Nehmen wir an: ›Entschuldigung angenommen‹.