AUS DER MASCHINENWELT

Monika hat nicht umsonst so weise gelächelt. Den Bass, hat sie schlicht geantwortet, gäbe es noch. Als Micha damals gehört habe, dass ich auch ihn zum Sperrmüll geben würde, hätten sie einen Plan zu dessen Rettung geschmiedet. Reden sei ja zu diesem Zeitpunkt ziemlich zwecklos gewesen. Also hätten sie handeln müssen, inkognito, verkleidet als osteuropäische Schrottsammler. Sie hätten sich von einem befreundeten Gemüsehändler einen zerbeulten Lieferwagen mit bulgarischem Kennzeichen geliehen, falsche Bärte und schlecht sitzende Klamotten angelegt und hätten so, in Nacht und Nebel, das ganze Bassequipment von der Straße und vor dem Sperrmüll gerettet.
»Alles, mit dem Verstärkermonstrum?«
»Tutti completti.«
Ich wisse ja, Micha hätte damals bereits mit dem Gedanken gespielt, einen Proberaum für seine Trompetenstudien zu mieten und just zu diesem Zeitpunkt seien sie fündig geworden, nur ein paar Straßen weiter, in der Himmelgasse. Es sei erstaunlich, welche Gewölbe die damals unter die Häuser gebuddelt hätten. Dort stünden jetzt auch, schön mit Stoff abgedeckt, Bass und Zubehör.
»Davon hast du mir nie etwas erzählt!«
»Nö. Aber ich wusste, dass die Zeit kommen würde.«
Und jetzt ist sie da, die Zeit, in Monis munterer Gestalt, die den Weg zum Proberaum vorangeht.
»Gut riechst du übrigens, wie ein provenzalisches Lavendelfeld, sogar noch hier draußen.«
»Jetzt müsste ich mich nur noch so fühlen.«
»Weißt du denn wie sich ein Lavendelfeld fühlt?«
»Einfacher vermutlich.«
Jedenfalls schleppt so ein Strauch nicht so viel Kompliziertheiten mit sich rum. Einmal im Sommer schön blühen und das war’s. Das Bad hat tatsächlich ein wenig geholfen, obwohl ich es am Anfang für eine etwas seltsame Idee gehalten habe. Wahrscheinlich ist ein bisschen des Lavendelschaumbads in die Hautporen gesickert – okay, ein Punkt für Moni.
Aber den Bass hätten die beiden nicht anrühren dürfen, auch wenn sie es gut gemeint hatten. Mein ganzes Hab und Gut zum Müll zu geben, selbst Bass und Verstärker, war vielleicht extrem, aber jeder hat seine Art, ein verkorkstes Leben hinter sich zu lassen. Das sollte man respektieren, selbst die besten Freunde.
»Ihr hättet das nicht tun sollen.«
»Was? Sperrmüll vor deiner Haustür aufsammeln?«
Eine gefährliche Furche gräbt sich zwischen Monis Augen. Doch das ist jetzt egal.
»Nein, grundlegende Entscheidungen von mir zu hintergehen.«
»Hintergehen?«
»Ja, der Bass war auch immer ein Ventil und wenn ich entscheide, das auf den Müll zu werfen, dann sollte das respektiert werden.«
»Okay … .«
Moni bleibt abrupt stehen.
»… das können wir mit einem Anruf beim Abfallamt ändern. Ist dann der Respekt wieder hergestellt?«
»Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät, meinst du nicht?.«
Wie vielleicht für diese ganze Diskussion. Meine Empörung fällt wie schlaffer Rauch in sich zusammen, kaum dass sie den Unterleib emporkräuselt. Was ist da los? Saugen die Lavendelporen etwa alle unbotmäßigen Gefühle auf? Moni lässt ihren Blick das Schnitzwerk der Kirche emporgleiten. Die Furche zwischen ihren Augen glättet sich wieder.
»Sabine … nimm es einfach als einen Akt der Hilflosigkeit. Wahrscheinlich habe ich es dir in der Form noch nie gesagt, aber … ich musste damals mitansehen, wie du dich von deinem bisherigen Leben abwandtest, von dem ich ja auch ein Teil gewesen bin. Und als Micha dann zufällig den Bass zwischen dem anderen Gerümpel auf der Straße liegen sah … . Ich wollte wenigstens etwas von diesem bisherigen Leben retten, du … du hattest in dieser Phase völlig zugemacht.«
Das stimmt, eine Art Schutzmechanismus wohl, sonst hätte ich das ganze nicht überstanden. Von diesem »bisherigen Leben« war nur noch ein Trümmerfeld übrig, es gab nichts mehr zu retten, so etwas kann man nur noch aus sich herausräumen, komplett, den ganzen Abraum und Lebensschutt, bis eine neues Wesen entsteht: Die Frau ohne Vergangenheit. Und als solche möchte sie mit dem, was nicht mehr zu ihr gehört, in Ruhe gelassen werden.
»Ist schon gut. Es war einfach eine schwierige Zeit.«
Doch da, wo nichts mehr sein sollte, ist etwas in Bewegung geraten oder wie sonst ist es zu erklären, dass ich Moni nicht bestimmt darauf hinweise, der Schrott, den sie mit ihren angeklebten Bärten aufgesammelt haben, könne meinetwegen da unten in Michas Keller verrotten und auf dem Absatz kehrt mache?
Die Himmelgasse gibt keine Antwort darauf. Auch Moni nicht, stattdessen zeigt sie in die Gasse hinein und sagt, da hinten, das sei das Gebäude, als habe sie zumindest verstanden, dass ich nicht weiter über das Thema reden möchte. Doch sie verschiebt es nur auf eine andere Ebene, auf die der Objekte: dort im Keller dieses schick renovierten Giebelhauses, Rennaissance oder sowas, in dem früher vielleicht die Zuarbeiter des Erzbischofs lebten, steht, mit Stoff verhüllt, ein Kern dessen, was es nicht mehr geben sollte. Und Moni glaubt ernsthaft, dieses Ding aus einem annulierten Leben könnte mir in meinem gegenwärtigen Zustand helfen? Allein das sollte mich schon in Wallung bringen, wenn sie meint, an meinen Seelendispositionen herumdoktern zu müssen. Doch in meinen Adern fließt kein wallbares Blut mehr, sondern Lavendelbalsam. Vielleicht, sagt das Balsam, vielleicht gibt es dort unten auch gar nichts mehr zu besichtigen, denn Bass und Verstärker sind zu einem unförmigen Klumpen verschmolzen, wie es Lebenskerne eben tun, wenn der größtanzunehmende Unfall eintritt.
Moni dagegen ist alles andere als ein Klumpen. Sie geht nicht nur, sie wogt sanft hin und her wie ein Getreidefeld im Wind, eins mit sich selbst und seiner Umgebung. Warum ist mir das noch nie so aufgefallen? Liegt es am besonderen Licht hier in der Himmelgasse? Das Licht bricht sich jetzt an etwas, das sie gerade aus der Handtasche gekramt hat und in die Luft hält, sie zwinkert mir zu, ein Schlüssel, für den Hauseingang vermutlich, er ist die glänzende Spitze ihres Körpers, der mir vorhin beim Baden so nahe gewesen ist. Meine Hände flattern wie Vögel, sie möchten nach dem Schlüssel greifen, nur als Vorwand um dann an ihrer Haut … . Du wirst bestimmt überrascht sein, sagt sie, die Haustür jetzt wie ein Ritter mit gesenkter Lanze ansteuernd. Schnitzwerk umrankt die Tür, die sich entgegen ihrem jahrhundertealten Aussehen lautlos öffnet. Zum Keller ginge es gleich dort rechts hinunter. Früher muss das Haus einmal verwinkelt gewesen sein, jetzt führen moderne Holztreppen großzügig nach unten, Spots leuchten den Weg. Das Haus sei erst vor wenigen Jahren vollständig und mit viel Liebe zum Detail saniert worden, allein das Gewölbe, was sich hier im Kellerflur schon andeute … . Wir schreiten unter weißen, sich anmutig wölbenden Kappen hindurch, Wandleuchten strahlen warmes Licht zu ihnen hinauf, Türen liegen in ihren Schatten. Moni bleibt vor einer der Türen stehen und öffnet sie mit dem Haustürschlüssel.
Das ist nicht wahr. Das ist kein Proberaum, sondern ein … Schallabsorptionsstudio. Jeder Quadratzentimeter der Decke, der Wände und des Bodens ist mit etwas ausgekleidet, das aus unzähligen kleinen Waben zu bestehen scheint. Absorbiert das den indirekten Schall? Dazu bräuchte es eigentlich dezimeterlang aus der Wand hervorstehende Absorptionskeile. Über dem Boden sind ein Gitter und konzentrisch verlaufende Schienen eingelassen, kein Fünkchen Hall, nirgends. Moni spricht wie auf einem unendlich weiten Feld:
»Du weißt ja, Micha hat so seine kleinen Helferlein. Die kommen mir zwar nicht in die Wohnung, aber hier durften sie sich mal so richtig austoben.«
In der Mitte des Raums steht ein Notenständer, daneben ein kleiner Geräteturm mit einem Laptop darauf – eine Musikmessstation. Ein Kabelkanal führt zu einer Reihe von Fußschaltern. Von der Decke hängt ein wulstiges Mikrofon, das zwei um 180° versetzte Ausbuchtungen aufweist, für perfekten Stereoton. Kaum zu glauben, Equipment und Aufstellung wie aus dem Lehrbuch. An dem Geräteturm lehnt der kleine schwarze Trompetenkoffer. Ich habe immer gedacht, Micha sei ein Trompetenpurist, aber das sieht ganz und gar nicht mehr nach reiner Lehre aus.
»Das ist … fantastisch. Und Micha tut immer so bescheiden, von wegen ein bisschen ins Horn blasen. Wieso …?«
»Das hängt mit dem da zusammen, du weißt schon.«
Moni deutet auf die Wand hinter uns. Ein schwarzer Behang wölbt sich von der Wand nach vorne. Ich sollte ihn nicht anfassen, aber hier sind alle Gesetze außer der der Akustik außer Kraft gesetzt. Der Behang fühlt sich weich und schwer an, schwerer, schallabsorbierender Samt. Ein wuchtiger Quader zeichnet sich darunter ab, mein alter Ampeg-Verstärker mit dem 6x10” cab. Nach dem letzten Streit mit Matthias hatte ich im Probekeller den Ampeg auf Anschlag gedreht und mir am Bass die Finger blutig gespielt. Putz fiel von Decke und Wänden – das war das Ende gewesen, von meiner Beziehung, meinem alten Leben und dem Bassequipment – dachte ich.
»Dieses Monster zu zweit in den Lieferwagen zu hieven und es dann hier in den Keller zu schaffen, das war Hölle. Zum Glück hatte Micha einen kleinen Heberoboter dabei. Aber jetzt ist es viel einfacher, jedenfalls hier im Raum.«
»Wie …?«
»Man kann die ganzen Gerätschaften auf dem Bodengitter entlang fahren. Micha steuert das von diesem Panel hier. Probier’ es einfach aus.«
Moni drückt einen großen, grünen Taster neben der Tür. Ein tieffrequentes Summen geht durch den Raum.
»Das ist der einzige Knopf, den ich hier bedienen kann. Scheint aber recht wichtig zu sein.«
Sieht nach dem Hauptsteuerungstaster aus.
»Den Rest musst du allerdings selbst herausfinden. Oder kommst du doch auf einen Sprung zu Martina mit?«
Um wie bereits auf der Party mit Ernährungstipps versorgt zu werden? Nein danke, das muss nicht sein. Und auf Jungfamilienglück kann ich auch gerne verzichten. Als ob es nichts anderes mehr auf der Welt gäbe als diese lallenden und sabbernden Kleinen. Mit meiner Anwesenheit würde ich niemanden einen Gefallen tun, weder Martina noch meiner eigenen Gefühlslage. Der entspricht dieser Raum viel mehr. Alle überflüssigen Geräusche werden von den Wabenwänden absorbiert, vielleicht schlucken sie ja auch gleich die entsprechenden Gefühle mit.
»Okay«, sagt Moni, »falls etwas ist, ich habe mein Handy dabei. Wahrscheinlich werde ich aber auch nicht allzu lange bleiben.«
Sie schließt die Tür hinter sich, das Knacken des Schlosses zerstäubt einige Kellerlängen hinter mir.
Stille, nur der Herzschlag, der Atem. Mein Räuspern scheint sich direkt vor dem Mund wieder aufzulösen, die Samtfusseln, die ich von den Fingern blase. Soll ich wirklich …? Nie wieder einen Aufruhr der Gefühle wegen eines Typen hatte ich mir geschworen, und jetzt …? Den schweren Behang kann man wie eine Haut zur Seite ziehen, ein leises, scheuerndes Geräusch. Dann liegt mein altes Leben vor mir: die Gibson Thunderbird und der Ampeg SVT-4 Head and Cab – Bassgitarre und Verstärker. Das BaFöG eines Semesters blätterte ich dafür hin. Statt für das Vordiplom zu büffeln, trat ich mit meinen Mädels in den versifftesten Clubs in Rhein-Main auf. Femcore. Ein überwiegend irritiertes Auditorium. Ich wäre damals fast von der Uni geflogen, wenn nicht Matthias … . Wie sagte er: Der Bass mag eine Verlängerung deines Körpers sein, aber er darf nicht zu einem Teil deiner Seele werden.
Das Schaltpanel ist nahtlos neben den Hauptsteuerungstaster eingelassen. Hinter einem der Kippschalter steht schlicht Gibson & Ampeg. Der Schalter lässt sich mit einem leisen Klacken nach oben schieben. Bass und Verstärker fahren summend auf einer Kreisbahn in Richtung Notenständer, wie abgefahren ist das denn?
Die Gibson ist übersät mit meinen alten Scribbels. Nichts davon ist verblasst: ›Alien inside‹, ›Prettiest mess ever seen‹, ›Catherine, Leah, Elise, Joy, Angelene‹ - Die fünf gefallenen Engel von Polly Harvest. Es gab Tage, an denen hörte und spielte ich nichts anderes. Nur was macht ›Alison‹ in dieser Reihe. Das ist nicht meine Schrift, außerdem sieht es so aus, ja der Name ist mit einem transparenten Etikett aufgeklebt worden. Wozu soll das gut sein?
Der Laptop auf dem Geräteturm wacht aus dem Schlafmodus auf. Er verlangt ein Passwort. Moni hat nichts von so einem Passwort gesagt, wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass es bei dieser Kiste so etwas gibt, sie hat es ja gerade mal geschafft den Hauptsteuerungsschalter einzuschalten und einen Hinweis kann ich nirgendwo … oder vielleicht doch – der falsche gefallene Engel: A-l-i-s-o-n. Micha, du verrückter Kerl, du wusstest, dass ich draufkommen würde. Software wird geladen, ein Auspegelungs- und ein Loopprogramm.
Ich nehme die Gibson aus dem Ständer und sogleich ist es wieder da, das Gefühl eins zu werden mit dem ganzen Instrumentarium, mit den Klinkensteckern, der Loopverkabelung, dem Gewicht der Gibson auf meinen Schultern, ihren abgegriffenen Reglern, dem Einschaltbrummen des Ampeg, aus dem gleich der erste Ton Körper und Raum erzittern lassen wird. Doch der Ton kommt nicht. Etwas ist anders als früher, etwas fühlt sich falsch an.
Es ist nicht der Bass selbst, sondern die Vergangenheit, die ihn umgibt. Ich brauche keine Prothesen mehr, die mein Inneres nach außen ableiten, meine Seele ist gut so wie sie ist, mit all ihren Schrunden und Verwerfungen. Moni müsste das doch eigentlich wissen, warum glaubt sie dennoch, dass da etwas ist, was bis in den gegenwärtigen Augenblick überdauert hat?
Vergangene Ereignisse lassen sich nicht wiederbeleben, sie sind wie tote Hautfetzen, die man von sich abgeschabt hat. Man kann sie betrachten, durch die Finger gleiten lassen wie etwas, das einmal zu einem gehörte. Die Gibson liegt wie ein geschwungener Keil in der Hand, die Energie ist noch immer zu spüren, Kratzer und Schmauchspuren am Korpus zeugen von den Kämpfen, die wir gegen andere Gegenstände geführt haben, doch all diese Kämpfe erwiesen sich am Ende als wertlos. Wenn ich jetzt zu taumeln beginne, Moni, helfen ganz einfache Dinge – man nimmt mich am Handgelenk und sagt: ›Wir schaffen das schon.‹ Und das alles ohne Prothesen. Es ist … okay, sie gesehen und in der Hand gehabt zu haben, aber jetzt ist besser, sie verschwinden wieder unter dem dicken, schwarzen Samtbehang.
Von mir aus können sie für immer hier bleiben, auf ihrer Kreisbahn, einen Halbkreis zu Laptop und Notenständer hin und einen wieder zurück, eine leises Surren begleitet sie auf ihrer Bahn, bis sie wieder sanft an die Wand andocken, perfekt ausgesteuert, wie alles hier im Raum. Selbst die Abdeckung des Schaltpanels ist mit dem selben Material wie die Wände verkleidet, das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen, es hat nur einen anderen, dunkleren Farbton, vielleicht deshalb. Was ist das bloß für ein Material? Auf den ersten Blick hat es diese Wabenstruktur, aber wenn man darüber streicht, fühlt es sich wie ein Meer aus feinen Wimperntierchen an. Sollen die etwa die Schallabsorptionskeile sein? Das widerspräche völlig den gängigen Gesetzen der Physik. Doch selbst das würde ich Micha mittlerweile zutrauen: Der ganze Raum ist eine einzige Verblüffungsmaschine. Das Schaltpanel nimmt sich dagegen fast konventionell aus. Reihen und Spalten mit Kleinsschaltern, sauber beschriftet, innerer Kreis, äußerer Kreis, Remoteaktivierung, Bibliothek … Bibliothek? Was ist denn damit gemeint? Im ganzen Raum ist doch nichts außer Elektronik, Instrumentarium und Absorption. Ob ich darf? Moni hat mir ja die allgemein Schalterlaubnis erteilt, also … .
Irgendetwas summt von … von der Wand. Nein, da hinten öffnet sich eine Tür, die als solche gar nicht zu erkennen gewesen ist.
Und dahinter, ist da wirklich …? Ja, tatsächlich, ein zweiter Raum, der früher mal ein kleines Kellerabteil gewesen sein muss, aber jetzt … von der Decke schaltet sich Licht an, ein Sensor an der Türschwelle wahrscheinlich, jetzt hat es nichts mehr mit einem Keller zu tun. Micha hat das Abteil bis unter die Decke mit Schubladenschränken bestückt, so als würden die Wände selbst aus Schubladen bestehen, kaum ein paar Finger hoch und breit vielleicht wie ein Stück Papier. Bücher passen da jedenfalls nicht hinein, höchstens einzelne Blätter. Das ganze scheint mit Farben in unterschiedliche Bereiche eingeteilt zu sein.
Der blaue Bereich nimmt fast die ganze Längsseite ein, kleine Etiketten beschriften robotergleich jede einzelne Schublade:
Vivaldi – Violinkonzert in a-Moll, RV 356 … Tartini – Trompetenkonzert in D-Dur … Cimarosa – Trompetenkonzert in c-Moll … J. S. Bach – Suite No. 1 in d-moll, BWV 1008, … Trio Sonata in C-Dur, BWV 529 … Händel Wassermusik, Suite in D-Dur, HWV 349 … Purcell, ganze Reihen mit Purcell, King Arthur Suite, Z. 628, The Fairy Queen, Z. 629, The Gordian Knot Unty’d, Z 597 …
Micha liebt Purcell und diese ganzen Siebzehntesjahrhundertsachen. Ich kann damit wenig anfangen, wie mit der ganzen Musik, die älter als 50 Jahre ist. Ich rang mir immer ein höfliches Lächeln ab, wenn er wieder einmal mit einer sensationellen Aufnahme ankam. Gerade das 17. Jahrhundert – es klingt gefällig, vielleicht sogar revolutionär im Vergleich zur vorangegangenen Epoche, aber durch jede Note atmet dieser höfische Kram hindurch, Micha kann den von der Musik trennen, ich nicht. Gottgleiche Herrscher knechten mit Hilfe eines durchtrieben-speicheleckerischen Adels die Bevölkerung. Ein Schulbesuch in Versailles endete damit, dass ich ins nächstgelegene Blumenbeet kotzte. Plötzlich hatten sich die Millionen Steine, aus denen dieser ganze Prunk bestand in Schädel verwandelt, Schädel derjenigen, die bis zum buchstäblichen Verrecken Leibeigen- oder Frondienst für die bescheidene Hütte des Sonnenkönigs leisten mussten. Am ehesten geht noch Bach, wenn das Mathematikgleiche den höfischen Ton verdrängt. Von ihm gibt es auch noch einige Schubladen, ›Suite Nummer 2‹ … oh, die Schublade fährt lautlos heraus, was habe ich gemacht, mit dem Finger sanft über Bachs Namen gestrichen? SoftTouch nennt man das wohl – und darin liegen die Notenblätter zur Suite. Das ist also die Bibliothek, ein Raum voll mit Noten, in farbliche Bereiche unterteilt und jede Farbe könnte … eine Epoche sein.
Der große, blaue Bereich hier ist Michas Lieblingsepoche, das Siebzehntejahrhundertding, ihre Bläue lappt sogar auf den Boden über, handbreit, ein Streifen, und darauf steht in weißer Schrift: Barock. Ich berühre mit meinen Schuhspitzen das Barock.
Der Farbstreifen läuft wie an der Schnur gezogen den Boden entlang, im ganzen Raum, seine Farbe ändert sich entsprechend den Farbbereichen der Schubladen, nur die Tür ist ausgespart. Nach dem Barock kommt der rote Bereich, genau, die Klassik, nicht besonders groß, wenn man bedenkt, dass hier unter anderem Mozart und Beethoven wohnen. Danach wird es gelb, die ›Neue Musik‹, in der es wieder erstaunlich viele Schubladen gibt, was aber nicht an der Zwölftonmusik liegt, sondern am Jazz. Neben Purcell liebt Micha den Jazz – und was ist dieser schmale, weiße Bereich am Ende, direkt neben der Tür? ›Zukunftsmusik‹ sagt der Streifen, aha – und in diesem schmalen Bereich ist genau … eine Schublade beschriftet: Sonic … bitte was? Das ist doch die Band, von der Peter gestern Abend gesprochen hat, die CD aus dem Wunderland, seit wann steht Micha denn auf sowas? Und warum in der Zukunft? ›… Original soundtrack from a machine’s world‹. Vielleicht deshalb? Leichtes Streichen über die sonische Wahrheit öffnet die Schublade.
Die Schublade enthält genau das, was vorne auf ihr drauf steht: Notenblätter mit dem Soundtrack aus der Maschinenwelt, so sagt es das schnörkellose Titelblatt. Das kann ich mir bei Micha durchaus vorstellen, jedes Stück und wenn es auch nur aus wenigen Noten besteht, muss ein Titelblatt haben. Die einzelnen Blätter sehen noch völlig neu aus, so als hätte sie noch nie jemand in der Hand gehabt – wie soll das auch möglich sein, wenn sie in der Zukunft liegen. Bin ich also gerade aus der Zeit gefallen? Wenn, dann sieht es dem, was ich kenne, noch recht ähnlich – die Maschinenwelt ist in ganz normalen Noten notiert, wie Bach und Purcell, doch damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Die Stimmung weicht von der Standardstimmung ab, sie liegt tiefer, ich kenne mich da nicht so aus, im Femcore wird überhaupt nicht gestimmt, aber das könnte eine Skordaturstimmung sein. Die wendet man vor allem bei Saiteninstrumten an, um tiefe Akkorde besser spielen zu können. Die Adaption auf Trompete stelle ich mir äußerst schwierig vor. Die Töne ergeben keine Harmonie- oder Rhythmusfolgen, sondern eher eine Art Motorik, das wird auf der Gitarre schon knifflig, aber für ein Blasinstrument braucht es dazu eine Atemtechnik, die mehr einem Pulsieren, als dem normalen Atmen entspricht. Vielleicht liegt das Stück deswegen noch unberührt in der Schublade und gar nicht so sehr der Zukunft wegen – weil sie Matthias die Lunge zum Kollabieren brächte? Ist es möglicherweise genau das, was Peter dazu gebracht hat, nach der CD im Wunderland zu suchen? Die Töne ergeben kein Musikstück im klassischen Sinn, sie … sie … erzeugen eher etwas, aber was? Das muss ich mir näher ansehen, auf dem Notenständer, im Freifeld.
In die Maschinenwelt führen drei Schlüssel: Violin-, Bass- und Perkussionsschlüssel. Der Bass beginnt, wie ein Herzschlag, nur mechanischer, dann das Schlagzeug, ein Körper setzt sich in Bewegung, dann die Melodieführung, die keine ist, sondern eher ein Rauschen, Code, ansetzender Maschinengesang. Die drei Schlüssel schmelzen zu einer einzigen Tonlinie zusammen, das ist verrückt – ich … ich kann die Noten nicht nur lesen, sondern sie auch hören, neben, hinter und … in mir, als wäre ich ein Teil davon, der … der Herzschlag. Soll ich etwa …? Vor mir auf dem Boden leuchtet der Loopgenerator abgedimmt in Startposition, daneben die Fußschalter, 1, 2, 3, 4, 5 – ja ich soll. Auf meinen Handflächen bildet sich kalter Schweiß, er wird einen Film auf dem Bass zurücklassen, der mir jetzt aus dem Körper wächst. Die Verstärkerklinke rastet in den Korpus ein, ich spiele, wie von selbst bewegt durch die von meinem Herzschlag angehäufte Menge an Schallkörperteilchen im Blut, die Andeutung einer Rhythmusfigur. Das ist das Zeichen für das Schlagzeug. Es setzt mit einem halben Trommelwirbel ein, die Becken rascheln wie Blätter in einer Windbö, die Gitarre streicht einen seifigen Akkord dazu. Neben den Fußschaltern blinkt die LED des Verzerrungsfilters. Der Filter knackt unter meinem Fuß, die LED springt auf grün. Der Anfangsrhythmus schreddert durch den Filter. Was vom Anfang noch übrig ist, trommelt das Schlagzeug in Grund und Boden, 4 Arme, 4 Beine. Die Gitarre variiert einen stetig wachsenden Sägeton dazu. Meine geschredderten Bassnoten sind jetzt von spiralförmigen Zeichen durchsetzt, ich soll sie loopen, die subauralen Töne, den Herzschlag, sie sind gesetzt wie … Loop Nummer eins, die Knoten der Struktur, Loop Nummer zwei, der Saum. Die Gitarre hat die Tonalität und das Tempo geändert, windschiefe Akkorde steigen auf und ab, aber nicht irgendwie, sondern regelbasiert. Was zum Teufel ist das? Ein zersägtes Grundmuster von Bach? Auf der Schlagzeugspur wird unter den polymorphen Schlägen so etwas wie ein Takt erkennbar. Beide nähern sich an, mein Bass webt die tieftonalen Verbindungsschlaufen, Loop Nummer drei, die Textur. Aus Bachs Mathematik werden elektro-akustische Entladungen und aus dem Taktfragment schält sich ein komplex vorwärtstreibender Rhythmus heraus. Schlagzeug, Bass, Gitarre schmelzen ineinander, bis das eine nicht mehr vom anderen zu trennen ist. Das ist kein Song mehr, keine Komposition, das ist … Struktur. Die Grenzen meines Körpers verschwimmen, die Füße auf den Looppedalen erstrecken sich weit in das Freifeld hinein. Loop Nummer vier, mit der Ferse schaltend - und plötzlich steht die Musik still, statisch, wie eingefroren – und bewegt sich doch, in sich selbst. Die Bass Drum wird in irrsinnigem Tempo geschlagen, ich spüre ihren Druck förmlich hinter mir – und, seltsam, die Frau dahinter, warum ausgerechnet eine Frau, barfuß, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Sie ist Teil der Struktur geworden, akustische Teilchen emittierend, aus der die Struktur selbst besteht. Das ist unfassbar, wir, die Noten … bilden einen akustischen Homöostaten, etwas, das sich wie ein Lebewesen selbst erzeugt und im Gleichgewicht hält und ich, den Bass spielend, dass die Hände schmerzen, die Sehnen aus dem Handrücken zu springen drohen, stehe in dessen Mitte, im Auge der Selbsterzeugung. Ein Homöostat muss seine Struktur aufrecht erhalten, sonst zerfällt er und genau das geschieht, wenn wir sterben, unser molekulares Gleichgewicht bricht zusammen, abrupt oder siechend, aber nichts davon geschieht hier, die Töne bleiben wohlstrukturiert, sie … werden nur von einem neuen Zeichen durchsetzt, einer aufgebrochenen Raute, was macht die denn hier, die im Sprayerslang für »freier Wille« steht. Das heißt … die Musik, endet dann, wenn sie und ihre Bestandteile es wollen – zum Beispiel jetzt!
Stille, selbst Herzschlag und Atem stehen still, nur in der Raumdämmung scheint die Musik kaum hörbar nachzuhallen. Die Notenblätter liegen vor mir auf dem Ständer, die letzte Seite aufgeschlagen. Atem und Herzschlag kehren zurück, als seien sie, während ich die Notenblätter las, Fremdkörper gewesen, schwache, endliche Bestandteile eines ebensolchen Systems. Doch jenseits von Esoterik und Frömmlerei gibt es nichts besseres, was also soll das sein, ein Homöostat mit aufgebrochener Raute? Ein musikalisches Abbild aus der Maschinenwelt, so wie es der Titel sagt? Aber Maschinen sind gerade das nicht, sich selbst erzeugende Systeme, selbst in der Zukunft nicht. Was also soll das – außer dass es ein völlig irres Stück Musik ist?
Der Laptop neben dem Notenständer ist weiterhin im Wachzustand. Mit wenigen Shortcuts lädt er das Remoteprogramm, Laptop und Schaltpanel verbinden sich. Manchmal muss man einfach um Dinge kreisen, um sie zu verstehen. Ein Summen, einige hundert Meter hinter mir, zerstäubt die Stille im Raum, auf der äußeren Kreisbahn kommt der Trompetenschemel angefahren, bis er da ist blättere ich die letzte Seite der Notenblätter um, sie ist weiß bis auf eine kleine Zeile am unteren Rand: Music written by Hazard, Worten and Starbuck. Der Schemel fährt mir unter die Beine, ich sitze auf und fahre in einer ersten großen Runde um den Notenständer herum, die Noten sind die Sonne, ich der Sternenstaub, der sie ratlos umkreist.