DIE FLIRRENDE STADT

Das Licht ist durch die Wolken gebrochen – der Bahnhofsvorplatz flirrt, die Gebäude ringsum, die Menschen, Busse und Strassenbahnen, als könne man durch sie hindurchgreifen, Luftspiegelungen, hell, die Augen schmerzen. Die zugenagelten Fenster am Bahnhofshotel zucken wie leere Augenhöhlen. Gegenüber, am hässlichsten Gebäude der Stadt, zerfließt die aschgraue Fassade wie verbrauchtes Make-up. Menschen kommen von allen Seiten, sie haben keine Umrisse, sind glasig, als würden ihre einzelnen Körperteile gleich ineinanderlaufen. Unlust flimmert auf einigen ihrer Gesichter, sie müssen um mich herumnavigieren, weil ich direkt vor dem Bahnhofseingang stehen geblieben bin, ein Hindernis, ja wie kann ich auch kein Hindernis sein, ich bin die einzige, die einen Körper hat, aus Fleisch und Blut – und dieser Körper zittert. So fühlt sich also Tapferkeit an. Das Zittern nach der unwirklichen Ruhe – als hätte die Polizistin, als sie im Gebeinhaus meine Hand genommen hat, einen Wall um mich gebaut, der sich beim Aussteigen aus dem Polizeiwagen aufgelöst hat.
Warum bin ich nicht im Bahnhof geblieben und habe weiter die Züge angeglotzt, den Rucksack neben mir, Züge von rechts, Züge von links. Für immer. Kann man denn nicht sein ganzes Leben darin verbringen, auf der Bank im Zwischengeschoss, auf der ich gerade gesessen habe, leben, im Rücken die Essens- und Trinkläden, Aufbackwaren aus osteuropäischem Teig, egal, daneben frisch gepresste Säfte, Chiquita Bananen, Orangen von San Lucar, herbizitsatt? Ich würde auf der Bank schlafen, in der Apotheke gegenüber gibt es Ohrenstöpsel für die Nacht und Pillen gegen alles andere. Zur Toilette geht man ins Untergeschoss, sie kostet einen Euro, aber man bekommt wieder fünfzig Cent zurück für den Osteuropateig, ein perfekter Kreislauf – und es ist schattig, man hat mit Fenstern gespart, wozu auch, wenn man draußen außer den Zügen nur ineinandergleißende Konturen sieht.
Der Rucksack schneidet in die Schultern, er ist schwer wie ein Menschenleib, als würden ihm gleich Arme und Beine aus den Seiten und ein Kopf oben heraus wachsen, ein Menschenleib aus Lehm, der seine kühlenden Hände ausbreitet und sie über meine Augen legt, gegen das Licht, gegen das Flimmern. Der Hüftgurt, kein Wunder, der Hüftgurt baumelt schlaff in der hellen Flut – ich sollte ihn schließen, damit sich das unendliche Gewicht besser verteilt.
Ich will ... zurück zu Moni in die Altstadt, aber die Altstadt ist meiner Orientierung abhanden gekommen. Die Stadt verwischt sich hinter dem Bahnhofsplatz. Ist Peter mit den Verwischungen verschwunden, dort, hinter den Bonifatiustürmen, wo einmal die Neustadt gewesen ist, der Gartenfeldplatz, seine Wohnung, leer, hinter den beiden unförmig nach oben steigenden Haufen aus äonenaltem, zähflüssigem Beton? Die Altstadt muss rechts davon liegen, genau, hier, die Münsterstraße hinunter, aber in diesem Zustand kann ich nicht gehen, ich muss zuerst … zur Ruhe kommen, allein diesmal, ohne die schützende Berührung der Polizistin.
Der Tote ist nicht Peter gewesen, ich könnte also erleichtert sein, warum hört dann das Zittern nicht auf? Ich muss mich einen Moment hier neben an die Bahnhofsmauer lehnen, ruhigen Atem schöpfen, ein-aus, ein-aus … etwas dunkles tritt mit dem Atem aus meiner brennenden Lunge hervor, ein Schatten, er legt sich über den Mauersims, dann über die quadratischen Bodenplatten davor, nimmt die Form eines … Rumpfs an, der Rumpf wächst vom Boden empor, ein toter menschlicher Rumpf, starr, ein Torso aus totem Fleisch, dort wo der Kopf sein sollte, liegt ein Tuch aus dickem Schattenstoff, ohne Mund, ohne Augen, ohne Antlitz – wie ist so etwas möglich, wer tut so etwas, wer oder besser was ist so monströs? Aus der glasigen Menschenmenge löst sich eine Kontur, ein Mann, er schaut mich im Vorbeigehen an, ob es mir gut gehe, ich sähe so bleich aus. Ich schäle mir jedes einzelne Wort aus dem Mund: Bleich sei jetzt das neue schön, ob er das nicht wisse. Nein, sagt er, das sei ihm neu und geht durch den auf dem Boden liegenden Torso hindurch weiter zum Bahnhofseingang. Ich dagegen steige über den Torso hinweg und treibe wie dürres, trockens Geäst die Münsterstraße hinunter, zum Münsterplatz, der kein Platz ist, sondern ein Zustand. Man schaut hinüber auf das andere Ufer und fragt sich, wie man am besten über den zähen Strom an stinkendem Blech übersetzen kann. Es gibt keinen Fährmann, der einen mit dürren, knorrigen Fingern hinüberrudert, dahin … wo sich die Schillerstraße bald schon verengt und den Hügel hinaufführt, den Totenhügel, ins Gebeinhaus. Das … das muss nicht noch einmal sein. Besser hier in die Seitenstraße einbiegen, deren Namen ich nicht weiß und dann hinter dem Proviantamt vorbei. Ob sie dort für die schlechten Zeiten auch Menschenfleisch lagern? Den Schillerplatz am Ende werde ich mit geschlossenen Augen überqueren.
Ohne Augen wird die Stadt zu einer Glocke aus verflüssigten Geräuschen, darunter meine über das Pflaster tastenden Schritte, Steine so groß wie ein Fußballen, etwas glattes, nach innen vertieftes jetzt … durch die Glocke prasselt ein schriller Laut. Mein Herz oder sowas ähnliches bleibt vor Schreck stehen – vor einer Straßenbahn. Der Mann in der Fahrerkabine breitet wütend die Arme aus. Ist das etwa der neue Fährmann, wohlgenährt und mit rotem statt mit knochigem Gesicht? Ist er wütend, weil ich ihn in seiner Fahrt störe, eine neue Ladung glasiger Menschen den Totenhügel hinaufschaffend, weil ich nicht dieser Ladung angehöre? Das nächste Mal vielleicht. Ich winke ihm entschuldigend zu.
Der Fastnachtsbrunnen hinter der Fährrinne plätschert wie flüssiges Metall, die Ludwigsstraße schlägt eine Sichtschneise bis zum Dom, an deren rechten Seite der neue Einkaufsglaspalast das Licht in seine Einzelteile zerbricht. Davon hält man sich besser fern – das zerbrochene Licht, die Lichteinzelteile dringen in den Körper ein und höhlen ihn zu einer Kaufhülle aus – hier den Ballplatz entlang auf die kreuzende Straße zu – kein Fährmann weit und breit, die Fußgängerampel schaltet auf ein wackliges Grün, ich setze über, ohne Hilfe, in den Kirschgarten. Warum der so heißt, wo doch darin ein Aprikosenbaum steht, bleibt auf ewig ein Geheimnis. Vielleicht weil der Baum zu Doktor Flottes Apotheke gehört, die schon älter ist, als der Kirschgarten selbst. Der Baum steht in voller Blüte. Die Blüten saugen das Himmelslicht wie weiße Löcher auf, Lichtstrahlen führen zu jeder einzelnen Blüte hin, eine Strahlenmeer, ein Strahlenbaum. Die Stadtverwaltung wollte ihn schon damals, als es das Gleißen und die glasigen Menschen noch nicht gab, weg haben, aber der alte Flotte hat ihn bis auf’s Blut verteidigt, er gab mir ein paar Aprikosenkerne, um ihr Geheimnis im ersten Biologieseminar offen zu legen – außerdem enthielten sie ein hervorragendes Öl gegen Cellulite. Ob er noch lebt, der charmante alte Ritter des Lichts? Er weißt mir mit seinem Schwert aus Aprikosenbaumholz den Weg zu Monis Wohnung, die Gasse hinter den in der Luft schwebenden Drachen rechts.
Der Klingelknopf fühlt sich angenehm hart und kantig an, gewinnen die Gegenstände, die Welt wieder an Kontur? Wenn das jemand schafft, dann Moni, meine Häfnerin des stillen, in sich ruhenden Seelenmeers. Ich könne jederzeit bei ihr unterschlüpfen, sagte sie, damals, nachdem ich ihr mitgeteilt hatte, dass Matthias und ich uns getrennt hätten und ich die Stadt und alles, was damit zusammenhinge, verlassen würde. Seitdem hält sie in ihrem Leuchtturm nach mir Ausschau, passt auf mich auf, dass ich mich nicht in der rauen See verliere, was ich beim Teufel auch nie wieder tun wollte, nie wieder – und plötzlich ist sie wieder da, die wellentosende See, unerwartet und wie aus dem Nichts.
Monis Stimme fragt blechern aus der Gegensprechanlage: »Ja?«
»Hi … Moni, ich bin’s … .«
Meine Stimme knarzt auch ohne Gegensprechanlage. Wahrscheinlich steckt noch immer das Gebeinhaus darin. Das muss da raus. Egal wie.
»Bine? Ich dachte … .«
»Besser nicht, Moni. Lässt Du mich rein?«
Das Schloss surrt. Die engen Altbautreppen knarren wie Holzscheite. Monis Gesichtszüge fahren etwas entzwei, als sie die Wohnungstür öffnet.
»Du bist ja ganz bleich. Was ist denn passiert. Komm rein.«
Ist bleich nicht das neue … ?
Ob ich etwas trinken wolle? Nein, oder vielleicht doch, einen Tee gegen die Bleichheit, etwas aus dem Hexenschrank. Moni schaut kurz irritiert, sagt aber dann nur: Gut, sie setze schnell einen kräftigen Ingwertee auf. Der Rucksack gleitet von meinen Schultern in die Flurecke. Es sind keine Arme und Beine dran.

Der Ingwertee breitet sich wie eine Ladung glühender Zitronen in meinem Körper aus.
»Der weckt ja Tote wieder auf.«
»Wie gewünscht«, sagt Moni, »und jetzt erzähl’: hast Du den Leibhaftigen gesehen?«
So ähnlich. Mit jedem Satz, den ich aus den vergangenen zwei Stunden zusammensetze, legt sich Monis Stirn mehr in Falten: Die leere Wohnung, das Foto von der jungen Frau mit dem rätselhaften Satz auf der Rückseite, die Polizistin, der Ausweis, das seltsame Gefühl, dass etwas zerbrochen sei, die Gerichtsmedizin, die Leiche, der zertrümmerte Kopf, das Mal auf dem Unterarm, die flirrende Stadt.
»Was für eine bizarre Geschichte.«
»Das kann man wohl sagen. Könnte ich, Moni, könnte ich … noch ein paar Tage hierbleiben, ich … ?«
Hierbleiben? An einem Ort, der außer Monis kleinem, schützenden Reich nur Tote, Verschwundene und eine abgelebte Vergangenheit kennt? Ich sollte mich endlich in den Zug setzen und nach Hause fahren statt mich noch tiefer in diese Geschichte hineinziehen zu lassen.
»… ich kann jetzt nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen.«
Sie will meine Hand nehmen, aber nein, es ist schon gut. Ihre klar konturierte Anwesenheit hat sich bereits wie eine schwere, warme Rettungsdecke um mich gelegt.
»Natürlich, Micha kommt erst am Freitag Abend von der Baustelle zurück. Deine Schlafsachen sind noch alle da.«
»Danke.«
Moni schaut nachdenklich in ihre Teeschale.
»Aber mir wäre es lieber, du würdest dich aus dieser Geschichte raushalten. Allein schon der Polizei wegen.«
»Die Polizistin, Gruber, Kriminal … kommissarin, ist glaube ich eine Gute.«
»Das weiß man heutzutage nicht mehr so genau. Komm.«
»Was?«
»Ich lasse dir ein Bad ein.«
»Ein Bad?«
Was will sie denn damit?
»So was mit Wanne und Schaum?«
»Ex-akt.«
»Ist das eine neue Therapiemethode?«
»Vielleicht. Positive sinnliche Erfahrungen sind oft heilsamer als man glaubt.«
»Ich … ich bin aber keine Badetussi. Überhaupt, seit wann habt ihr denn eine Badewanne?«
»Hast du heute morgen nicht den Wandteiler im Badezimmer gesehen?«
»Heute morgen konnte ich kaum zwischen kaltem und warmem Wasser unterscheiden.«
»Kam mir auch so vor. Komm, den Tee kannst Du mitnehmen.«
Die beiden, Moni und Micha, haben tatsächlich in den hinteren Teil des Badezimmers, in dem zuvor diverse unmontierte Badgegenstände lehnten, eine große Emailbadewanne mit gusseisernen Füßen gestellt. Die Füße haben Zehen. Und statt eines Wasserhahns gibt es zwei Messinghandräder. Die Teetasse nimmt auf einem für sie vorgesehenen Würfel aus grobädrigem Holz Platz. Moni dreht an den Handrädern, Wasser fließt in die Badewanne hinein, sanft rauschend, etwas Dampf steigt darin auf, normaler, natürlicher Dampf, von warmem, für den menschlichen Gebrauch erhitztem Wasser. Das Wasser vermischt sich mit einem violetten, dickflüssigen Badezusatz, den Moni aus einer kleinen Glasflasche in die Wanne rinnen lässt. Zum Geräusch des rauschenden Wassers, lege ich meine Klamotten ab, den Kapuzenpulli, die Jeans, das T-Shirt … . Mit jedem Kleidungsstück nimmt die Menge an Wasser in der Wanne zu – und Moni lässt immer wieder ihre Hand hineingleiten, die Temperatur prüfend, wie die Angestellte einer hochpreisigen Badeanstalt. Nur noch die Unterwäsche, dann bin ich nackt, niemand hat mich so seit Jahren gesehen, den Leberfleckmakel auf meiner Brust, den weißen, leicht gewölbten Bauch, doch ich fühle, die Unterwäsche abstreifend, keinen Hauch von Scham – denn hier ist alles gut.
Moni stellt das Wasser an den beiden Handrädern ab, erst kalt, dann warm. Der Badezusatz schäumt leicht auf der Wasseroberfläche. Der Duft, der Duft erinnert mich an etwas … .
Okay, sagt sie, sie würde mich jetzt lassen. Ich könne so lange baden, wie ich wolle, bis die Haut Schrumpeln werfe. Nein, ich … will jetzt nicht gelassen werden. Ob sie mir nicht Gesellschaft leisten könne? Klar könne sie.
Das Wasser steigt wie fluidgewordene Hitze an meiner Haut empor. Nur wenige Grad mehr als der eigene Körper und schon hat man das Gefühl sich in eine freundlich zugetanen Glut zu setzen. Ich lasse mich ganz in die Wanne gleiten. Der Duft, Moni, ob der von dem Badezusatz käme? Ja, sagt sie, auf dem alten Eichenstuhl neben der Wanne sitzend, das sei Lavendelessenz. Lavendel (Lavendula angustifolia), ja, der Duft in Mutters Ruhezimmer – eins der wenigen Dinge, an die ich mich von früher noch zu erinnern erlaube. Moni greift in das kleine Regal am Kopfende der Wanne und taucht einen großen Schwamm in das Badewasser. Sie drückte den Schwamm langsam über meinen Schultern aus, ein warmer Perlenregen auf der Haut, eine Tonleiter aus flüssigem Stoff. Zwischen die perlenden Töne tupft sie ihre sanfte Altstimme hinein, wenn ich früher … aufgebracht gewesen sei, wenn etwas … dunkles mich erfasst hätte und raus, einfach nur wieder raus musste, hätte ich mir immer den Bass umgeschnallt, ob ich mich erinnerte? Ungerne … als wäre es ein anderes Leben gewesen – das wie der Bass und so vieles andere auch schließlich auf dem Sperrmüll landete.
Moni taucht den Schwamm wieder in das Wasser ein.
»Das kann man so nicht sagen.«
»Wie meinst du das?«
Sie lächelt weise und drückt den Schwamm langsam aus. Wasser perlt über meine Arme, erst rechts, dann links.