GEGEN DIE REGEL

Die letzte Ampel bevor man zum Bahnhof herunterfährt ist rot, wie meistens. Der Querverkehr strömt über die Gleisbrücke stadtein- und auswärts. Darunter sieht man die Bahnhofsfassade glitzern. Es gibt ein bisschen Sonne zwischen den Wolken – wer hätte das nach dem Weltuntergangsregen heute morgen gedacht. ›Wenn es keine Umstände mache, könne ich sie am Bahnhof rauslassen‹, hat Frau Saxild geantwortet, als ich sie beim Verlassen der Rechtsmedizin fragte, ob ich sie irgendwo hinbringen könne. Sie schien keine Eile zu haben, vielleicht nimmt sie einfach den nächstmöglichen Zug. In den Süden fahren die Züge wahrscheinlich mehrmals täglich, aber gut, ich kenne mich was das betrifft nicht so gut aus. Ihr Gepäck hat sie vermutlich in ein Schließfach eingeschlossen, bevor sie zu Endlichs Wohnung gegangen ist. Sie schaut noch immer aus dem Fenster, schweigend, wie auf der Hinfahrt, eigentlich könnte sie ja erleichtert sein, aber was ist das schon für eine Erleichterung, wenn ein Bekannter womöglich zwar nicht tot ist, aber dafür verschwunden bleibt. Sie schweigt, gefasst, irgendwie tapfer. Vielleicht sollte ich ihr das zum Abschied sagen. Verdammte Gefühslduselei.
Die Busampel springt auf den Punkt, dann auf den Längsstrich. Der Bus neben uns auf der Busspur fährt an, ich reihe mich hinter ihm ein. Die restlichen Spuren müssen noch einen Moment warten, bevor sie bei grün halbrechts in die Innenstadt abbiegen können.
»Die Polizei darf das?«
Wie aus dem Nichts stellt Frau Saxild diese Frage, murmelt sie vor sich hin, ohne mich anzuschauen, ich verstehe nicht ganz … .
»Was? Was soll die Polizei dürfen?«
»Geradeaus fahren.«
»Wegen dem … Rechtsabbiegegebot?«
»Ja, alle anderen müssen sich daran halten.«
Aber wir sind nicht wie alle anderen.
»In besonderen Fällen dürfen wir die Regeln der Straßenverkehrsordnung übertreten, zum Beispiel im Falle des Zeugentransports.«
Was eine großzügige Interpretation der Sonderverordnung 34 K darstellt. Aber soll ich etwa eine Ehrenrunde die Kaiserstraße runter drehen, nur um hier auf der anderen Seite endlich zum Bahnhof einbiegen zu können?
»Das heißt ich bin die Erlaubnis?«
»Sozusagen.«
Sie nickt stumm und wendet sich wieder zum Fenster hin ab. Was für eine seltsame Frage. Misstraut sie etwa … oh, verdammt … fast hätte ich die Straßenbahn übersehen. Um die zu erkennen, muss man sich ja quasi den Hals ausrenken. Dahinter ist eine Lücke, in die ich einfädeln kann. Wo hält man hier am besten? Nahe dem Bahnhofshaupteingang ist es etwas schwierig, da hinten, neben dem Bussteig für die Überlandbusse sieht es ganz gut aus, dort ist das Gewimmel aus Bussen, Bahnen und Fußgängern nicht mehr ganz so groß.
»So, da wären wir. Gleich hier vorne ist der Nebeneingang. Von da kommen sie direkt zu den Schließfächern und zu den Gleisen.«
»Besondere Fälle scheinen auch ihre Vorteile zu haben.«
»Durchaus.«
Ich stelle den Motor ab. Warum weiß ich nicht, es ist so … so ein Gefühl – Herrgott – aber irgendetwas drängt mich, es tatsächlich zu sagen …:
»Sie sind … ziemlich tapfer gewesen da unten, im Gebeinhaus.«
»Danke, das hat auch an Ihrem sanften Polizeigriff gelegen.«
»Der hat mich selbst ein bisschen verblüfft. So etwas mache ich normalerweise nicht.«
»Was?«
»Menschen sanft anfassen.«
Eine entfernte Art von Lächeln huscht über Frau Saxilds Gesicht.
»Vielleicht sollten sie es öfters ausprobieren.«
»Sie scheinen mir da eher die Ausnahme zu sein.«
»Die Ausnahme, ja.«
Das Lächeln verschwindet wieder so schnell von ihrem Gesicht wie es gekommen ist. Flüchtig, vieles an ihr scheint flüchtig zu sein, aber darunter ist etwas anderes, etwas … festes, widerständiges.
»Wissen Sie wann Ihr nächster Zug geht?«
»Nein. Ich werde auch nicht fahren. Ich möchte nur mein Gepäck aus dem Schließfach holen.«
Das ist in meinen Augen keine so gute Idee. Sie würde besser nach Hause fahren und den Vorfall vergessen. Aber irgendwie passt es zu ihr. Wahrscheinlich würde ich genauso handeln.
»Und was werden Sie stattdessen tun? Wieder zurück zu ihrer Freundin gehen?«
»Ja, ich werde sie wohl ein wenig überraschen müssen.«
»Und wie lange wollen sie noch bleiben.«
»Ich weiß es noch nicht genau. Ein paar Tage vielleicht. Vorausgesetzt sie nimmt mich noch so lange auf. Ihr Mann wird bald von seiner Auslandsreise zurückkommen. Sie können mich vermutlich nicht auf dem Laufenden halten?«
»Nein, leider nicht. Über laufende Ermittlungen dürfen wir keine Auskunft geben.«
Oder besser gesagt: Normalerweise nicht. Aber eine Visitenkarte kann man auch als Angebot verstehen, in Kontakt zu bleiben. In der Innentasche müsste ich noch welche haben.
»Aber hier, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.«
Frau Saxild wirft mir einen Blick zu, sagt »Okay, danke« und steckt die Visitenkarte in ein Seitenfach ihrer Umhängetasche. Sie scheint zu verstehen.
»Wenn sie möchten, kann ich Sie auch zu Ihrer Freundin fahren. Sie müssen Ihr Gepäck nicht durch die halbe Stadt schleppen.«
»Das ist nett, aber es ist nur ein kleiner Rucksack … und ein paar Schritte werden mir gut tun.«
Sie zieht am Griff der Wagentür, hält inne, als sei ihr plötzlich noch etwas eingefallen und wendet sich wieder um. Diese blassgrünen, unverstellten Augen … als könnten sie zugleich transparent und hart wie Glas werden. Der sich schief öffnende Mund … .
»Und was werden Sie jetzt tun?«
Etwas hat sich seit unserem Aufeinandertreffen in Endlichs Wohnung verändert. Das beruflich bedingte Misstrauen ist verschwunden und durch etwas anderes ersetzt worden. Hüten sie sich vor persönlichen Bindungen gegenüber Verdächtigen und Zeugen, hieß es schon in der Ausbildung. Was aber, wenn der Instinkt das anders sieht?
»Wenn sich niemand findet, der den Toten identifizieren kann, wird die Rechtsmedizin eine Schädelrekonstruktion durchführen, damit wir ein Bild des Toten veröffentlichen können.«
»Das ist der Vorteil, wenn man tot und nicht spurlos verschwunden ist. Es ist etwas da, was man rekonstruieren kann. Auch wenn es grässlich zugerichtet ist. Werden sie Herrn Endlich vermisst melden?«
»Nein, das können wir nicht, die Vermisstmeldung muss von einem oder einer Angehörigen ausgehen.«
»Sie werden also nach seiner Familie suchen?«
»Ja, sieht danach aus.«
Frau Saxild nickt unmerklich.
»Ich hoffe, sie haben Erfolg.«
Sie öffnet die Wagentür, nimmt ihre Umhängetasche und steigt aus. Mit wenigen Schritten hat sie den Nebeneingang des Bahnhofs erreicht. Beim Gehen biegen sich ihre Beine leicht nach außen. Dann verschwindet sie im Bahnhofsgebäude.
Und was folgt daraus? Vor einer halben Stunde bin ich noch davon ausgegangen, dass die Identität des Toten nach der Identifikation geklärt sei. Statt einer Klärung sind jetzt zwei Fragen offen. Wer ist der Tote? Und wohin ist Peter Endlich verschwunden? Falls Frau Saxild sich nicht geirrt hat – doch sie hat selbst bei mehrmaligem Nachfragen gesagt, sie sei sicher. Die Geschichte mit der Tusche unter der Haut scheint durchaus plausibel zu sein. Martenstein hat bestätigt, dass Flüssigkeit durch Kapillarwirkung unter die Haut gesogen werden kann, und das Vernehmungsprotokoll hat sie sorgfältig gelesen und dann ohne Zögern unterschrieben. Sie ist klug genug, um zu wissen, dass sie damit eine Art eidesstattlicher Erklärung abgibt. Andererseits - nach dem wievielten Glas Rotwein sieht man Dinge, die möglicherweise gar nicht da sind? Dazu der eine oder andere Drink auf der Party und, wer weiß, das Gefühl sich zu verlieben - eine nicht zu unterschätzende Mischung. Man kann natürlich auch bewusst lügen oder eine falsche Aussage machen. Nur wozu? Um die Wirklichkeit zu verdrängen? Nein, das passt alles nicht zu ihr, weder Lüge noch Irrtum.
Gut, dann werde ich jetzt Frank anrufen. Vielleicht gibt es ja auch vom Unfallort etwas neues zu … . Verdammt, was war das denn? Ein Schlag. Am Wagen. Was zum Teufel … . Ein junger Typ, hipstermäßig, geht an der Beifahrerseite vorbei, tritt gegen die Stoßstange nach und schimpft:
»Ihr Bonzenkarren glaubt auch überall parken zu dürfen.«
Nein, das glaube ich jetzt nicht. Ein 5er BMW eine Bonzenkarre? Hat dieser Idiot in Kniekehlenhosen sie noch alle? Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt: Vandalismus – und auch noch gegenüber einem Dienstwagen der Polizei, der zwar nicht als solcher gekennzeichnet ist, aber das ändert nichts an dem Tatbestand. Weiß er denn nicht, dass seit Beginn des Jahres die verschärfte DiVo [1] in Kraft ist, um gegen die zunehmende Verrohung, vom Ausspucken auf die Straße bis zum Vandalismus, vorzugehen? Der Maßnahmenkatalog ist mir zuwider und als Kripobeamtin bin ich zum Glück nicht verpflichtet, ihn auszuführen, aber durchgehen lassen kann ich es diesem Bürschchen auch nicht. Den werde ich mir kurz zur Brust nehmen, sonst glaubt er noch, sich in seinen Schlabberhosen alles erlauben zu dürfen.
Ich stoße die Wagentür auf, ein paar schnelle Schritte und … zwei Gestalten schieben sich wie aus dem Nichts zwischen mich und den Hipster. Schwarze Kampfanzüge, schwarze Gesichtsmasken: Scheiße, zwei von der LOG 9 [2]. Wo sind die denn auf einmal so schnell hergekommen? Eine der beiden Gestalten zieht dem Hipster die Kopfhörer von den Ohren und packt ihn am Schlafittchen. Die andere trägt einen Pferdeschwanz, wie ich, nur in haselnussbraun. Von dem Gesicht sehe ich nur die Augen, dunkel, kalt, der Rest ist von der schwarzen Maske verdeckt. Sie hält mir ein Aufnahmegerät entgegen. Das Aufnahmegerät zeigt den Hipster, wie er mit der Faust auf die Motorhaube schlägt und gegen die Stoßstange tritt.
»Sie können das bestätigen?«
Eine LOG 9 Stimme, entfernt weiblich, metallen.
Ich habe keine andere Wahl. Ich bin gezwungen zu bestätigen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Trockener Husten bellt aus der Lunge. Verdammte Scheiße.
»Ja … aber … .«
Die Aufnahmefunktion des Aufnahmegeräts leuchtet.
»Männliches Objekt wurde gegenüber polizeilichem Eigentum gewalttätig. Führen Disziplinarmaßnahme 34-A durch.«
Woher wissen sie, dass der Wagen … ? Sie gibt der anderen, bulligen Gestalt, ein Zeichen. Ich weiß, was das jetzt bedeutet.
»Hören Sie, der Wagen hat nicht mal eine Schramme.«
Die kalten, dunklen Augen zucken mir entgegen.
»Kollegin Gruber, Sie machen Ihren Job, wir machen unseren, okay?«
Der bullige LOG 9er entriegelt den Disziplinarkoffer. Die kennen nicht nur den Wagen, die wissen auch, wer ich bin. Und das innerhalb weniger Augenblicke. Was hat man da nur … geschaffen? Der Hipster schreit »Ey …!« und will schon vor Wut schnauben, als er, sich im Griff des LOG 9er windend, die schwarze Maske bemerkt. Wut wird zu Angst. Er weiß, was das bedeutet. Jeder weiß das. Auch die Passanten. Sie gehen mit gesenkten Blicken weiter. Warum ist dieser Idiot wenigstens nicht so schnell er konnte abgehauen. Jetzt greift 34-A: konfrontieren, aufnehmen, bestrafen – und ich kann nichts dagegen tun, nicht einmal meinen Blick abwenden, vor dem, was jetzt kommen wird.
Die LOG 9er mit dem Pferdeschwanz hält dem Hipster das Aufnahmegerät vors Gesicht.
»Das bist du, oder?«
Der Hipster stammelt etwas.
»Ausweis!«
Er greift in die Hosentasche in Kniekehlenhöhe. Das Aufnahmegerät rastert den Ausweis ab, ein Bestätigungston: Objekt gespeichert.
»Hören Sie, ich ...«
Zu spät, mein Lieber. Die LOG 9er interessiert das nicht, sie drehen ihm wie einer Puppe die Arme auf den Rücken.
»Rüber an die Wand.«
Schultergelenke knacken.
»Aaah, sie tun mir … sind sie bescheuert.«
Die Metallstimme vermerkt in das Aufnahmegerät:
»Männliches Objekt beleidigt Maßnahme 34-A ausführende Beamten.«
Der bullige LOG 9er legt dem Hipster in einem endlos oft geübten Griff Handschellen an. Die Schlösser des Disziplinarkoffers schnappen auf.
Der Hipster jammert:
»Kommen sie Mann, war nicht so gemeint. Ich hab grad’n bisschen Stress zuhaus’. Die Karre hat doch nicht mal ’ne Beule abbekommen. Scheiß Aggro, ey, wird nicht wieder vorkommen.«
Das Eingeständnis verhallt ungehört. Die Kopfhörer werden aus dem Disziplinarkoffer genommen und dem Hipster über die Ohren geschoben. Der Klinkenstecker schnappt in den Anschluss des Audiomasters: Maßnahme 34-A, 20000 Hz, 90 dB, 30 Sekunden. Den Kippschalter auf ›Ein‹. So steht es in der Verordnung – und so geschieht es auch. Das bleiche Monster aus Klang schnellt aus dem Audiomaster und schlägt seine Krallen in den Hipster. Er fängt an zu schreien. Seine gefesselten Hände zucken auf dem Rücken nach oben, die Beine zittern. Zwischen meinen Beinen wird es warm, vom Blut, das aus den von den Krallen geschlagenen Wunden tropft, vom Stöhnen, Schreien eines gemarterten Körpers. Speichel sammelt sich in meinem Mund, warmer, cremiger Speichel. Der Hipster klappt zusammen und gleitet zu Boden. Sein Kopf wackelt hin und her. Gurgelnde Laute kommen aus seinem Mund. Ein weiterer Wärmeschwall schießt mir zwischen die Beine. Nein! Ich möchte das nicht mehr, diese Erregung, sie soll aufhören, verschwinden, für immer.
Der Audiomaster schaltet ab. Es ist vorbei. Aus der Nase des Hipsters tropft Blut. Die metallene Stimme spricht in das Aufnahmegerät:
»Massnahme 34-A durchgeführt, eine Aufnahme des disziplinierten männlichen Objekts wird als Beweis beigefügt.«
Der Tagesblitz des Geräts leuchtet über dem Hipster auf. Mit mechanischen Griffen zieht ihm der bullige LOG 9er den Kopfhörer wieder ab und legt ihn in den Disziplinarkoffer zurück. Die Schlösser des Koffers schnappen zu, die ausführenden Organe der DiVo wenden sich von ihrem disziplinierten Objekt ab. »Sie lassen ihn einfach so liegen?«
»Der berappelt sich schon wieder«, sagt die metallene Stimme und die Augen des anderen schauen mich für einen kurzen Moment an. Sie sind so dunkel wie die Maske selbst. Oder wie leere Augenhöhlen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Das Nasenblut tropft dem Hipster auf die Hose. Irgendwie muss ich das Bürschchen wieder auf die Beine kriegen. Wie kann man ihn einfach nur so liegen lassen? Ist das auch Teil von 34A? Los, du Schwachkopf, hoch mit dir. Seine Augen, nach oben verdreht, gleiten langsam wieder in ihre normale Position. Irgendwo in der Hosentasche habe ich doch noch eins von Frau Saxilds Taschentüchern.
»Hier, halte dir das unter die Nase.«
Der Hipster nimmt mit unsicherer Hand das Taschentuch.
»Das … ist … ist krank«, stammelt er.
»Ja, ich weiß. Deshalb mach’ das nie wieder, okay?«
[1]: Disziplinarverordnung
[2]: Landesordnungsgruppe