SPUREN IM WALD

Ich hätte nicht gedacht, dass der Sicherheitsrat die LOG 9 bereits so massiv einsetzen würde. Noch letzten Monat hieß es, dass Details zu Organisation und Finanzierung nicht geklärt wären und solange käme sie nur an ordnungsrechtlichen Brennpunkten zum Einsatz, bei der Demonstration der Studenten vor dem Wissenschaftsministerium zum Beispiel, in die ich zufällig hineingejoggt bin. Sie trennen eine Gruppe Studenten mit Feuerwerkskörpern von den anderen Demonstranten ab und drängen sie gegen die Betonfassade des Ministeriums. Statt weiter zu laufen, starre ich wie gebannt auf dieses Schauspiel. Sie haben Koffer, in den Koffern sind Geräte, die geheimnisvollen Audiomaster, die Ordnungsdeliquenten mit etwas disziplinieren sollen, das man körperlich nicht spürt. Eine interessante Idee. Doch dann sehe ich das Monster aus Klang aus den Geräten in das Fleisch der an die Wand gestellten Studenten schnellen, die Studenten zucken, zappeln und klappen zusammen wie der Hipster vorhin, daneben die schwarzmaskierten LOG 9er: Sie wenden keine zusätzliche Gewalt an, nicht die geringste Überreaktion, sie setzen nur das um, was von der DiVo in diesem Fall gefordert wird: Maßnahmen 30–34A. Und plötzlich tauchen sie wie aus dem Nichts am Hauptbahnhof auf. Ja, der Hipster hat sich wieder berappelt, aber steht das wirklich im Verhältnis zu dem, was er getan hat? Wenn er nun statt gegen ein Stück Blech zu treten, einen Menschen totgefahren hätte und abgehauen wäre, wie dieser Abschaum heute Nacht, was wäre dafür die geeignete Disziplinierungsmaßnahme? Rädern und Vierteilen?
Da vorne kommt sie ja schon, die Kurve, an der dem Toten der Kopf zu Brei gefahren worden ist. Bin ich etwa seit Gonsenheim ganz in Gedanken versunken bis hierher gefahren? So etwas darf mir als Polizistin nicht passieren, was wäre wenn … wenn es gar kein Abschaum mit Fahrerflucht gewesen ist, sondern die LOG 9. Der Tote geht nachts und mit sittenwidrigen Gegenständen in der Innentasche auf einer landeseigenen Straße entlang und da rauscht sie aus dem Waldweg heran und zertrümmert ihm gemäß Disziplinierungsverordnung den Kopf. Vor dem Waldweg liegt etwas im Straßengraben. Was ist das? Etwas dunkles, schwarzes, massiges, wie ein Körper, es scheint sich über etwas zu beugen. Ist das etwa … schon wieder einer von der LOG 9? Der schwarze Kampfanzug glitzert jedoch irgendwie seltsam und es sind auch keine Arme und Beine zu erkennen, es sieht eher aus wie … wie ein Ding im Straßengraben, etwas aus Plastik, ein Sack … voller Müll, was für eine Schweinerei. Dafür sollte es auch eine Disziplinierungsmaßnahme geben. Strangulieren mit einem Müllsack – das würde ich sogar persönlich übernehmen.
Frank und Mahler müssen ihre Wagen am Anfang des Waldwegs geparkt haben. Die Frage, vor der wir also noch immer stehen, ist, warum ein Mensch mitten in der Nacht hier auf der Straße entlang spaziert und wie er zu Endlichs Ausweis gekommen ist. Frank hat vorhin am Handy angedeutet, dass Mahler mittlerweile Zweifel habe, dass es tatsächlich ein Unfall gewesen ist. Zwar gäbe es keine neuen Hinweise am Unfallort, aber je mehr man versuche die Verletzungen des Toten in Zusammenhang mit einem unkontrollierten Aufprall gegen ein Auto zu bringen … . Zweifel und Dinge in Frage zu stellen sind Mahlers Spezialität. Das ist oftmals nervtötend, aber in manchen Fällen, wie auch vielleicht in diesem, führt es auf eine Spur, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Und wenn man das negative Ergebnis der Identifikation in Beziehung zu den Zweifeln setzt … .
Der grobe Schotter des Waldwegs knirscht unter den Reifen. Frank und Mahler stehen an den SpuSi-Wagen gelehnt und starren in die gegenüberliegenden Baumwipfel. Frank dreht seinen Kopf nach mir um.
»Was stellt ihr denn hier für Naturbetrachtungen an?«
»Über allen Wipfeln ist Ruh«, antwortet Mahler und streckt mir die feiste Hand entgegen. Sie fühlt sich weich und formlos an. Sein Doppelkinn wackelt beim Reden. Er sollte etwas Sport treiben. In der anderen Hand hält er seine Latexhandschuhe. Den SpuSi-Utensilienkoffer hat er auf das Wagendach gelegt.
»So schnell sieht man sich wieder.«
»Tja.«
»Im Leichenschauhaus lief's nicht ganz nach Plan, hmmm?«
»Nein, nicht so wie erwartet.«
Frank schaut mich weiter an, mit etwas, das keine Augen sind, sondern Wahrheitsdetektoren, wässrig-blaue Wahrheitsdetektoren.
»Gab es … sonst noch etwas?«
Nein, möchte ich sagen, aber mir steigen die schwarzmaskierten Worte einfach aus der Kehle:
»Ach, Bekanntschaft mit der LOG 9, sie haben, als ich Frau Saxild zum Bahnhof gebracht habe, einen Hipster fertig gemacht, verordnungskonform versteht sich, weil er gegen meinen Dienstwagen getreten hat.«
»Die LOG 9 …«, sagt Frank erstaunt.
Mahler pfeift durch die Zähne.
»… ich dachte … sind die jetzt auch außerhalb der Brennpunkte unterwegs?«
»Genauso ist es.«
Er hält nahezu ehrfurchtsvoll inne, bis er diesen seltsamen Gesichtsausdruck wie eine lästige Fliege wieder abschütelt.
»Na, solange sie ihren Job machen und uns unseren machen lassen soll’s mir recht sein.«
»Haben die beiden auch gemeint.«
»Dann mach dir keine weiteren Gedanken. Unsere Geschichte hier ist verzwickt genug. Können wir uns auf die Aussage von dieser Frau Saxild verlassen? Ein Mal auf dem Unterarm, hast Du vorhin am Handy gesagt. Im Ausweis steht meines Wissens nichts davon drin.«
»Stimmt. Ist ja aber auch kein Muttermal oder sowas. Ich sehe zurzeit keinen Grund an ihrer Aussage zu zweifeln. Umso dringender müssen wir jetzt Verwandte oder Freunde von Endlich ausfindig machen, die das bestätigen können.«
»Was bedeutet, dass wir es mit zwei Personen zu tun haben könnten, die letzte Nacht aufeinander getroffen sind und von denen die eine tot und die andere verschwunden ist.«
»Sieht ganz danach aus. Geben die Spuren hier in der Beziehung irgendetwas her?«
»Nein, nichts, was auf eine zweite Person oder ähnliches hindeuten würde. Aber aufgrund der Verletzungen und den Spuren, oder besser gesagt den nicht vorhandenen Spuren, hat Mahler hier eine Hypothese aufgestellt. Demnach war es kein Unfall, sondern möglicherweise Mord.«
»Wow, steile These, Mahler. Wie kommst du plötzlich darauf? Heute morgen hast du noch über diesen ganzen Unfallschmodder geflucht.«
Jetzt ist er an der Reihe, er, Maik Mahler, das verkannte Genie der Spurensicherung. Man sieht es seinen leicht bebenden Backen an, dass er etwas zwingendes zu verkünden hat. Er steckt die gebrauchten Latexhandschuhe in die Hosentaschen und streckt die Hände wie zu einer Predigt in die Luft.
»Durch die präzise Lokalisierbarkeit der Verletzungen. Wenn einer nachts auf der Straße herumtorkelt und von einem Auto mit leicht überhöhter Geschwindigkeit, sagen wir ca. 80 km/h, erfasst wird, dann wird er entweder von der Fahrbahn geschleudert oder vom Auto so überrollt oder mitgeschleift, dass der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich habe mir die Fotos, die wir heute morgen vom Toten gemacht haben, vorhin am Rechner nochmal näher angeschaut. Die Leiche ist zwar völlig verdreckt, aber die Verletzungen sind klar lokalisierbar: an der Hüfte und natürlich am Kopf. Ansonsten ist der Bursche ziemlich unversehrt. Die Verletzung an der Hüfte kommt vom ersten Aufprall und die am Kopf …«, er hält salbungsvoll inne, »… von einer gezielten Tötung.«
»Gezielte Tötung?«
»Ja, man hat ihn zuerst an der Hüfte angefahren, ihn dann, lebendig, mit dem Kopf auf den Asphalt gelegt, ist mit dem Auto drüber gefahren und hat ihn dann zurück in den Straßengraben geschleift.«
Das hört sich aber ziemlich abenteuerlich an.
»Sieht Martenstein das mit den Verletzungen auch so? Mir gegenüber hat er nichts derartiges fallen lassen.«
»Sagen wir es so: Die Rechtsmedizin hält sich in solchen Fällen gerne etwas zurück.«
Mahler zieht wie zur Entschuldigung die Schultern nach oben. Sein fleischiger Hals verschwindet fast vollständig dazwischen.
»Aber es gibt noch etwas, was für diese … These spricht, Manu«, wendet Frank ein.
In seinen Augen flackert jetzt Beunruhigung. Das ist nicht gut.
»Es gibt, wie wir heute Morgen bereits vermutet haben, tatsächlich keinerlei Brems-, Schleif- oder Schleuderspuren. Weder der Meganalysator noch Mahler haben auch nur einen Hinweis darauf gefunden.«
Der Meganalysator und Mahler, zwei Meister ihres Fachs, der eine dick, der andere doof.
»Der Typ, der das hier durchgezogen hat, wenn es denn so war, hat gezielt draufgehalten.«
Wenn sich das bewahrheiten sollte, dann ist Abschaum noch ein viel zu freundliches Wort. Vielleicht hat der Sicherheitsrat doch Recht, wenn er die Zügel etwas fester anzieht, in Fällen wie diesen … . Aber das bedeutet … .
»Was voraussetzt, dass der Typ genau wusste, wen er überfuhr.«
»Davon wäre auszugehen«, brummt Mahler zustimmend.
Frank schaut wieder zu den Baumwipfeln empor. Er ist ein guter und zuverlässiger Kollege, mag es aber nicht, wenn die Dinge kompliziert werden. Die Bäume treiben bereits aus. Der Wald wird bald wieder voll mit ekelhaftem Grünzeugs und Vogelgezwitscher sein. An der Straße donnert ein Motorrad vorbei. Und was ist mit dem Täterfahrzeug?
»Könnten Spuren am Fahrzeug zurückgeblieben sein?«
»Durchaus möglich, Blutspritzer, Haut- und Hirnteile. Nichts, was man aber nicht wegkärchern könnte. Einen bleibenden Schaden kann ich mir nur an der Aufprallstelle vorstellen, eine Delle an der Stoßstange oder am Kotflügel.«
Frank holt seinen Blick wieder von den Baumwipfeln zurück.
»Willst du etwa alle Werkstätten in Mainz und Umgebung nach einem zerbeulten Kotflügel abklappern?«
»Wenn wir keine anderen Anhaltspunkte haben. Kann am Toten selbst etwas vom Auto zurückgeblieben sein?«
»Das Reifenprofil am Schädel, hahaha!«
Mahler wiehert vergnügt über seinen geschmacklosen Witz.
»Nein, das ist eher unwahrscheinlich. Vielleicht minime Lackspuren an der Kleidung im Hüftbereich. Ich kann da nochmal eine Mikroanalyse drüber laufen lassen.«
Gute Idee. Und die nähere Umgebung? Ob sie sich die schon einmal angeschaut hätten. Nein, hätten sie nicht. Im Ernstfall müsse man eine Hundertschaft mit Spürhunden durchlaufen lassen. Alleine sei das ziemlich aussichtslos. Ja, vielleicht ist es aussichtslos, ohne Richtung und Anhaltspunkt durch die Gonsenheimer Wildnis zu stapfen, aber … wenigstens mit dem Wagen den einen oder anderen Weg abfahren. Frank kneift die Augen zusammen. Er hat ein feines Gespür dafür, wann er trotz anderer Meinung besser nicht diskutiert.
»Okay, ich werde mit Mahler ein offizielles Statement auf den Voicerekorder protokollieren und dann hier auf dich warten.«
Ja, ein offizielles Statement. Man sollte den Apparat nicht unnötig in Unruhe versetzen.
Die beiden lehnen sich quasisynchron wieder an den SpuSi-Wagen zurück und lassen ihre Blicke wieder in die Baumwipfel schweifen. Denn über denen ist Ruh’ – ganz anders als hier unten auf Schotter und Matsch. Ich fahre an ihnen vorbei in den Waldweg hinein. Vereinzelt wirbeln Schottersteine auf und schlagen gegen den Fahrzeugboden. Der Weg ist noch nass, die Vertiefungen mit kleinen Pfützen gefüllt. Zwischen den Wolken kommt die Sonne durch, die Strahlen bringen die feuchtigkeitssatte Vegetation zum Schimmern, die Laubbäume links, Buchen oder so etwas, das Gestrüpp darunter.
Der Weg macht eine Biegung links, dann eine Biegung rechts. Frank und Mahler sind aus dem Rückspiegel verschwunden und stattdessen ist nur noch Wald und Bewuchs zu sehen, aus dem … plötzlich Sonnenstrahlen reflektiert werden. Da links, zwischen dem buschigen Grün leuchtet etwas Rotes. Vielleicht ist es wieder nur Müll, der hier illegal entsorgt worden ist, aber irgendwie … . Das schaue ich mir mal an. Ich halte den Wagen an, steige aus und mache einen langen Schritt über den Wasserablaufgraben. Gras und Farnzeugs streift an den Hosenbeinen. Der Wald ist als Zeckengebiet ausgewiesen. Hoffentlich fange ich mir keines dieser Mistviecher ein. Selbst der letzte lange Winter konnte ihnen ja angeblich nichts anhaben. Der rote Fleck nimmt Gestalt an, etwas silbernes ragt senkrecht empor, eine schwarze, langgezogene Fläche zieht sich über das hintere Ende, das Ding sieht aus wie … wie ein umgekipptes Motorrad, tatsächlich … ein Motorroller, eine rote Vespa.
Das Teil scheint noch nicht lange hier zu liegen, kein Rost oder sonstige Auflösungserscheinungen. Nur ein paar ordentliche Schrammen auf der Unterseite. Sieht so aus, als hätte sich jemand damit hingelegt und den Roller dann hier ins Unterholz geschoben. Nur wozu? Das Nummernschild ist teilweise von Dornengestrüpp verdeckt. Das biege ich am besten mit dem Stiefel nach unten. AZ-OG-71. Einer vom Lande. Dazu kann der Zulassungsdekoder bestimmt etwas sagen. Weitere Anhaltspunkte gibt es nicht. Der Waldboden hat alle Reifen- und Fußspuren verschluckt, man kann nicht einmal im Ansatz erkennen, von wo der Roller hergeschoben wurde. Möglicherweise sind auf dem Schotter noch Sturzspuren auffindbar, wenn der Regen sie nicht bereits verwischt hat. Wie dem auch sei … das wichtigste habe ich aufgeschrieben, alles weitere am Wagen. Das Unterholz knackt unter den Schritten, sonst ist kaum ein Geräusch zu hören, als würde man von einer unsichtbaren Wand umschlossen. Das habe ich am Wald noch nie gemocht. Wenigstens scheint die krautige Luft dem Hals ganz gut zu tun.
Der Zulassungsdekoder ist ein Ungetüm, so viel Masse für eine einzige Funktion. Bald soll es ein neues, ultramodernes Gerät geben, den ›Observer‹. Nahtlose Strafverfolgung nennen es die Marketingfuzzis. Wird aber auch langsam Zeit. Den Dekoder darf man ja eigentlich keinem mehr zeigen. Als ihn mir der Ingenieur zum ersten Mal vorführte, dachte ich, er wollte mich verarschen – ein Wetteraufzeichnungsgerät mit Parabolantenne. Ich sei doch keine Klimainspektorin. Die Polizei müsse Daten in einem eigenen Netz übertragen, deshalb die Antenne. Immerhin besser als nichts. Ohne den Dekoder müsste ich die polizeiliche Informationszentrale anfragen – die nur an Werktagen besetzt ist, was für ein Farce.
Die Parabolantenne wächst aus der Metallkiste heraus und entfaltet sich wie ein Regenschirm. Die linke Papierrolle fordert zur Eingabe auf. AZ … . Der Stift kratzt über das Papier. Die Antenne summt. Manchmal kann man nach der Eingabe einen Kaffee trinken gehen, aber jetzt geht es schnell. Die rechte Papierrolle beginnt sich zu drehen, deren Stift kratzt darüber:
Zugelassen auf
Endlich

Was? Das ist doch …
Heimlich
Wohl eher ›Heinrich‹.
2
Wassergasse
Nordelsheim
55277
… Bingo! Wenn das kein Volltreffer ist. Dem Namen nach ist die Vespa vermutlich auf Endlichs Vater zugelassen – was dem Alter des Gefährts auch etwa entspricht. Und der Papa ist mittlerweile zu alt, also hat der Sohnemann das Teil übernommen – was mit großer Wahrscheinlichkeit beweist, dass Endlich am Unfallort oder zumindest in seiner Nähe gewesen sein muss. Hat sich Frau Saxild vielleicht doch geirrt? Jedenfalls wissen wir jetzt, wo wir uns als nächstes hinwenden müssen. Und Endlichs Eltern sollten das Geheimnis um das Mal am Unterarm wohl auflösen können. So, und das gute Stück hier darf wieder schlafen gehen. Die Parabolantenne faltet sich zusammen und fährt in die Kiste zurück.