TOTER KÖRPER

Warum sitze ich jetzt hier – in einem kleinen Raum voller Stahlregale und Aktenordner? Weil mir eine Frau eine Dienstmarke gezeigt hat und einen Personalausweis, auf dem ein Bild und Daten von Peter zu sehen gewesen sind? Weil sie mit wenigen Worten die monströse Verbindung zwischen ihm und dem Tod gezogen hat?
»Heute Nacht wurde im Gonsenheimer Wald ein Mann überfahren. Er trug diesen Ausweis bei sich. Bitte … .«
Ich nehme den Ausweis entgegen. Er reflektiert das Vormittagslicht, das sich bereits müde durch die Wolken kämpft. Name und Foto sind nicht richtig zu erkennen. Ich muss ihn etwas schräg halten, dann wird alles sichtbar:
Endlich
Peter
02.07.1971
Deutsch
Nordelsheim
Das Foto zeigt ein vom Denken ausgezehrtes Gesicht, biometrisch erfasst.
Es fängt wieder an zu regnen, Tropfen, groß und unzählig prasseln auf die Autoscheiben des Polizeiwagens nieder. Das ist nicht wahr. Sie waschen die Schlieren des vorangegangenen Regens davon und fließen zu einem lückenlosen Film zusammen. Die Welt draußen verschwimmt, immer mehr – der Film wächst zu einer Wand aus Regenwasser an, dann bricht der Regen durch die Dichtungen des Seitenfensters. Er strömt auf meine Haut, dringt in die Poren ein, wäscht das Blut aus meinen Adern und steigt von dort nach oben. Nein, ich möchte das nicht, nicht in die Augen, doch die Augenränder fangen schon an zu brennen. Es sind die sauren, abgeschwemmten Sedimente meines Körpers, der jetzt nicht mehr mir gehört, sondern dem Regen. Er tritt aus den Augen wieder heraus, langsam, Tropfen für Tropfen – und ich kann nichts dagegen tun. Wann hatte ich das letzte Mal geweint? Als Jugendliche, aus Wut. Selbst die Trennung von Matthias hatte mich nicht zum Weinen gebracht. Und auf einmal weine ich für einen fast Fremden, für jemanden, von dem ich nur Dinge und eine Stunde Lebenszeit kenne. Und doch … . Der Regen, der nicht in meine Augen steigt, sickert in das Körpergewebe und gefriert zu kaltem, brüchigem Eis. Alles wird starr, steht still, meine Arme, mein Körper. Wie kann etwas enden, was noch gar nicht angefangen hat? Ein Stück Plastik, ein Foto, ein Abbild soll alles sein, was bleibt? Und ein Leichnam, den ich jetzt identifizieren soll. Wie soll das gehen bei etwas, das kein Gesicht mehr hat, ein Torso?
Die Polizistin beugt sich nach unten und schaltet den Computer ein, zur Dateneingabe, für das Vernehmungsprotokoll, ein ganz normaler Teil ihrer Arbeit, den sie routiniert durchführt. Hat sie überhaupt so etwas wie Gefühlsregungen? Selbst das Telefonat im Fahrstuhl, scheinbar etwas privates, hat sie professionell zu Ende gebracht. Die Zornesfalten zwischen den Augen und in der Stimme haben sich schnell wieder geglättet, kleine Anzeichen eines Innenlebens zumindest.
Der Rechner quäkt das Willkommenssignal von Madleine OS. Dessen Tage sollten doch schon lange gezählt sein. Warum hat man nicht ein überaltertes Betriebssystem statt Peter überfahren? Vermutlich wird sie gleich nach meinem Ausweis fragen, eine reine Routineangelegenheit. Aufnahme und Abgleich eines Zahlencodes, der die ganze Identität einer Person zu sein beansprucht. Warum trägt man ihn nicht gleich auf der Stirn? Dann wäre man immer sofort und ohne Umstände ausweisbar. Es sei denn der Kopf wurde zertrümmert – dann vielleicht eine Gravur direkt ins Herz?
Habe ich den Ausweis überhaupt dabei? Ja, da im hinteren Fach steckt er, unverändert. Aber bin ich noch die gleiche Person? Eisstücke treiben noch immer in meinem Blut, fremde Bestandteile, die mich aus meinem eigenen Körper verdrängen – so wie es am Abend zuvor bei Peter geschehen sein muss. Im vergilbten Flurlicht wird er auf einmal ein Anderer, er hat den gleichen Körper, alles Äußere an ihm ist gleich und doch scheint etwas anderes, fremdes von ihm Besitz ergriffen zu haben. Die Eisstücke ritzen meine Adern auf. Durch die Ritze dringt vom Unterleib genährte Angst ein, die Angst, dass es wahr ist, was die Polizistin behauptet, dass im Nebenraum ein toter Körper liegt, der einmal Peter gewesen ist.
»Jetzt bräuchte ich bitte noch ihren Ausweis.«
Die Polizistin macht ein paar Klicks mit dem Trackball. An dem Gerät daneben fängt eine grüne LED an zu leuchten – ist das tatsächlich noch einer dieser urzeitlichen Scanner, durch den man Ausweise hindurchzieht? So etwas müsste wie das Betriebssystem doch eigentlich schon längst tot sein. Über das untote Gerät hinweg halte ich ihr meinen Ausweis hin. In ein paar Sekunden werden die daraus ausgelesenen Daten im Rechenzentrum für innere Sicherheit landen. Das ist ein offenes Geheimnis. Und dort bin ich nicht mehr als dieser staatlich festgelegte Satz an Merkmalen, verknüpft mit einem Ereignis – es sei denn, man hat ein kleines Programm, das den Merkmalssatz knacken und umschreiben kann.
»Kann der die neuen Pässe noch lesen?«
Die LED am Scanner wechselt von grün auf rot, als die Polizistin meinen Ausweis durchzieht. Zwischen ihren Augen werden die Zornesfalten wieder sichtbar. An der Hand, mit der sie den Ausweis hält, scheinen die Sehnen förmlich aus dem Handrücken zu springen. Wie sich diese Hände wohl … anfühlen?
»Wenn er überhaupt noch etwas lesen kann.«
Statt den Scanner mit ihren Sehnenhänden zu zermalmen, zieht sie den Ausweis nochmals durch den Spalt hindurch – diesmal blinkt die LED kurz grün auf.
»So, jetzt … . Naja, die wesentlichen Daten kriegt er noch ausgelesen. Die anderen Felder bleiben dann eben leer. Ich muss sie deshalb nach der Identifikation auch bitten, das Protokoll ganz altmodisch zu unterschreiben. Eine Gesichtserkennung ist mit dem Teil noch nicht möglich.«
Das würde auch wenig helfen. Ich sehe jeden Tag anders aus. Auch wenn das von staatlicher Seite ignoriert wird. Mir den Ausweis zurückgebend, hält die Polizistin auf einmal inne, als wäre ihr etwas neuartiges in den Sinn gekommen. Sie habe da noch eine Frage zu gestern Abend. Ob Herr Endlich sich auf irgendeine Weise seltsam verhalten habe. Es sei doch etwas ungewöhnlich, in der Neustadt zu wohnen und mitten in der Nacht plötzlich auf der Budenheimer Landstraße entlang zu wandern. Ja, er hat sich am Ende seltsam verhalten. Aber das ist etwas, was zwischen uns beiden geschehen ist. Dafür gibt es keine Übersetzung in einen ID3-Scan oder für ein Feld in einem Vernehmungsprotokoll. Vielleicht war er mir deshalb gleich so vertraut, weil auch ihn etwas bewohnt, das nicht er selbst ist. Ob die Polizistin weiß, wie es sich anfühlt, von etwas Fremdem in Besitz genommen zu werden? Wen sie mich mit ihren sehnigen Händen aufrisse, würde sie es sehen. So wie ich es bei Peter gesehen habe, nur bei geschlossenem Körper, wie er das Loch, in dem er am liebsten versinken würde, mit seinem eigenen Blick grub – er möge ungespülte Gläser nicht. Vielleicht ist es das, was ihn in den Gonsenheimer Wald getrieben hat. Und darauf soll ich die Polizistin jetzt hinweisen, dass sie danach fahnde: nach dem Fremden in uns?
»Nein, wir saßen auf der Treppe zum Hinterhof, haben geredet und Rotwein getrunken. Am Ende haben wir uns verabschiedet und er ist wieder zurück in seine Wohnung gegangen.«
Ob ich das noch etwas genauer beschreiben könne? Ihre blauen Augen richten sich regunslos auf mich. Wir wollen nur die Wahrheit wissen, sagen sie. Welche Wahrheit, frage ich zurück? Was sich zwischen Peter und mir genau zugetragen habe. Manchmal würden kleinste Details weiterhelfen. Die Party ist vermutlich nicht so ein Detail, aber ich erzähle es trotzdem, meine Flucht, der Hinterhof, Regen, Schritte, Peters gelbe Schuhe, wie der Rotwein an ihm baumelte und er plötzlich zwei Gläser hervorzauberte, er der Philosoph, ich die Ingenieurin, wie die Zeit verflog und wir uns am Ende hölzern verabschiedeten.
»Scheint nicht so der Draufgänger gewesen zu sein.«
»Nicht wirklich.«
»Und irgendwann später«, sagt die Polizistin wie zu sich selbst, »hat er die Wohnung wieder verlassen und sich zum Gonsenheimer Wald aufgemacht.«
Sie tippt noch ein paar Zeichen auf der klapprigen Tastatur. Dann bittet sie mich zur Tür. Jetzt ist es also soweit. Ich habe Mühe aufzustehen. Meine Arme und Beine haben Wurzeln in den abgeschabten Linoleumboden geschlagen. Darin gibt es zwar keine brauchbaren Nährstoffe, aber er hält mich bei sich fest. Die Polizistin ignoriert die Verwurzelung einfach. Kommen Sie, sagt sie die Tür öffnend, als wolle sie mich zu Kaffee und Kuchen einladen. Die Wurzeln reißen beim Aufstehen wie seidene Fäden, eine nach der anderen, Linoleumstaub bedeckt Arme und Beine, mit denen ich jetzt so etwas wie Schritte aus dem Vernehmungsraum mache.
Die Tür zum Obduktionssaal ist aus Milchglas - damit Licht in den Raum eindringen kann, aber die Formen der toten Körper nicht nach draußen. Die Polizistin zieht an der roten Schnur, die von der Decke hängt, als würde sie die Tür in eine geheime Kammer öffnen. Ich bräuchte keine Angst zu haben. Man werde die Identifikation so kurz wie möglich halten. Das ist einfach gesagt. Gleich werde ich ein Ding sehen, das vor wenigen Stunden noch ein Mensch gewesen ist. Die Angst ist bereits dabei mir den Magen umzudrehen. Und das ist erst der Anfang, sagt sie. Ich dachte immer, übler als damals im Humanbiologieseminar könne es nicht werden. Den Geruch von Formaldehyd rieche ich noch heute und das Bild der sezierten Leiche, vermutlich einer Osteuropäerin, der man die hohen Wangenknochen und die Sehnen an den Armen freigelegt hatte, hat sich für immer im Kopf eingenistet. Doch jetzt geht es nicht um eine anonyme Leiche, sondern um den Menschen, den ich gerne wieder gesehen hätte und das bringt die Angst, dieses fremde Tier, zum Rasen.
Die Milchglastür schwenkt von einem leichten Surren begleitet zur Seite. An der rechten Wand sind Reihen von kleinen, rechteckigen Türen eingelassen. Eine der Türen ist geöffnet und die Bahre mit dem Leichnam herausgezogen worden. Neben dem Leichnam steht der Mann im weißen Kittel und erwartet uns bereits. Mit welchem Namen hatte er sich noch einmal vorgestellt? Dr. Martenstein? Wie kann ein Verwalter des Todes nur so einen angenehmen Händedruck haben – und so eine angenehme Stimme? Ihm täten die Umstände leid, unter denen wir uns kennenlernen müssten. Ob er das zu jedem sagt, der zu ihm ins Gebeinhaus hinabsteigt? Mir wären überhaupt keine Umstände am liebsten.
Der Leichnam ist noch vollständig bekleidet. Der Kopf wird von einem dunklen Tuch bedeckt. Schweiß kriecht mir in die Achselhöhlen, der Magen scheint in sich zusammen zu fallen, ein schwarzes Loch, an dem mich die Angst von innen nach außen stülpt. Warum kann ich dem keinen Einhalt gebieten? Die Eisstücke in den Adern fallen splitternd zu Boden, wo sie sich blutrot verfärben und zu einer glänzenden Lache zerschmelzen. Ein sanfter aber bestimmter Griff schließt sich um mein Handgelenk.
»Wir schaffen das schon«, sagt die Polizistin.
Mit ihren Outdoorstiefeln tritt sie in die Lache und saugt die blutrote Flüssigkeit wie ein Schwamm auf.
»Versuchen Sie nicht auf den Kopf zu schauen, auch wenn er verdeckt ist. Sehen Sie sich die Kleidung an. Hat Herr Endlich, als Sie sich kennenlernten, etwas davon getragen?«
Unter der Berührung und den magischen Fähigkeiten der Polizistin setzen sich meine Beine in Gang und bewegen mich auf den Leichnam zu. Das Ding ist tatsächlich ähnlich dünn wie Peter. Auf Höhe der Hüfte sieht es auf der rechten Seite seltsam eingedrückt aus, als wäre ein harter Gegenstand dagegen geprallt.
»Vermutlich ist der Tote an der Hüfte erfasst und dann auf die Fahrbahn geschleudert worden«, sagt Dr. Martenstein, als könne er nicht nur Leichen sondern auch Gedanken lesen.
Wie schnell Menschen doch kaputt gehen. Ein Gegenstand muss nur eine ausreichend große Härte und physikalische Wucht haben.
Die Kleidung ist völlig verschrammt und verdreckt. Jeans, eine Art Lederjacke und Stiefeletten, die vorne spitz zulaufen. Würde Peter jemals eine Lederjacke und diese Art von Schuhen tragen?
»Erkennen sie etwas an der Kleidung wieder?«
Die Polizistin hat den Griff um mein Handgelenk gelöst. Überraschenderweise falle ich ohne dieses Exoskelett nicht wie ein unförmiger Haufen Fleisch zusammen. Irgendetwas stimmt hier nicht.
»Nein, Peter hat während wir gestern zusammen saßen ganz andere Schuhe und einen verwaschenen Rollkragenpullover getragen. Das hier kann ich mir an ihm gar nicht so richtig vorstellen.«
»Und der Körperbau?«
»Ja, ähnlich … .«
»Sind ihnen bei Herrn Endlich vielleicht irgendwelche besonderen körperlichen Merkmale aufgefallen?«
Besondere körperliche Merkmale? Wie sollen mir die aufgefallen sein. Auf der Hinterhoftreppe habe ich ja nur einen Schemen und seine leise Stimme gesehen. Und später im Flur, in diesem Rinnsaal aus gelblichem Licht? Wir haben darin vor seiner Wohnung gestanden, er die leeren Gläser in der Hand, nervös zupft er sich am Ärmel herum, der Ärmel … der Unterarm - wie konnte ich das nur vergessen.
»Darf ich bitte den linken Unterarm sehen?«
»Der Unterarm, warum, was ist da?«
Dr. Martenstein zieht den verdreckten Ärmel des Toten nach oben. Der Unterarm ist leichenweiß, kein Tattoo, nur weiße, weiße Haut.
»Das ist nicht Peter Endlich.«
»Langsam, langsam, warum nicht?«
Das Licht im Gebeinhaus fängt an zu flackern, Blitze der Erleichterung.
»Weil er am linken Unterarm eine schwarze Verästelung unter der Haut hat.«
»Und die haben sie gestern Abend gesehen?«
»Ja, als wir uns verabschiedeten. Er hat seinen Ärmel nach oben gezogen. Da habe ich sie bemerkt. Und ihn danach gefragt. Ich dachte zuerst, es wäre ein Tattoo. Aber es ist getrocknete Tusche – die hat er sich unabsichtlich mit einer Tuschefeder da rein injiziert, Kapillarwirkung, verstehen Sie?«
»Sind sie sich sicher?«
»So sicher wie ich bin, ihn getroffen zu haben.«
Dr. Martenstein und die Polizistin schauen sich an.
»Das macht die Sache nicht einfacher«, sagt er.
»Verdammt ja«, flucht sie.